Longing

Longing

„Ga’agua“, Israel, 2017
Regie: Savi Gabizon; Drehbuch: Savi Gabizon; Musik: Yoram Hazan
Darsteller: Shai Avivi, Assi Levy, Neta Riskin

Longing
„Longing“ läuft im Rahmen des 36. Filmfests München (28. Juni bis 7. Juli 2018) und des 24. Jüdischen Filmfestivals Berlin & Brandenburg (26. Juni bis 5. Juli 2018)

Kinder? Nein, die wollte Ariel (Shai Avivi) nie haben. Es ist daher ein ziemlicher Schock, als eines Tages seine Ex-Freundin Ronit (Assi Levy) vor ihm steht und ihm erzählt, dass sie einen gemeinsamen Sohn haben. Einen Sohn, den sie im fast zwanzig Jahre verheimlicht hat. Doch diesem Schock folgt gleich der nächste: Adam ist tot, vor Kurzem bei einem Unfall ums Leben gekommen. Seines Sohnes gleich wieder beraubt begibt sich Ariel auf eine Reise in die Vergangenheit, versucht den Verstorbenen kennenzulernen. Dabei trifft er viele Menschen, von der Freundin bis hin zur hübschen Lehrerin Yael (Neta Riskin), in die Adam verliebt war. Dabei muss er feststellen, dass die Annäherung deutlich schwieriger und schmerzhafter ist als gedacht – auch deshalb, weil er unterwegs von einigen unschönen Punkten erfährt.

Man ist doch nie zu spät, um sich noch einmal näherzukommen, alte Gräben zu überwinden und zusammenzufinden – so zumindest behaupten die vielen Filme, die zu dem Thema gedreht werden. Oft sind es äußere Umstände, welche alte Streithähne oder entfremdete Familienmitglieder dazu veranlassen, sich mit dem anderen auseinanderzusetzen. Das darf dann auch gern in Form einer Reise geschehen, wie es die Familiendramen Helle Nächte und Leanders letzte Reise vorgemacht haben. Denn je weiter die Menschen wegfahren, umso näher kommen sie sich.

Trauern um einen Unbekannten
Problematisch ist es jedoch, wenn einer der beiden bereits tot ist. Die kanadische Reise nahm uns mit, als ein Franzose mittleren Alters seinem verstorbenen Vater nachspürt, den er nie kennengelernt hat. Longing setzt diesem noch eines drauf, indem er die Rolle von Toten und Lebendigen vertauscht, einen Mann erst nach dem Tod seines Sohnes überhaupt informiert, dass er einen hatte. Kann man um jemanden trauern, den man nie kennengelernt hat? Von dem man nie wusste, dass es ihn gibt? Und ist es möglich, noch einmal die Rolle eines Vaters anzunehmen, nachdem es kein Kind mehr gibt?

Zumindest Letzteres will Ariel versuchen, wenn er sich Adam annimmt, seiner Probleme annimmt, nachträglich alles geraderücken versucht, was zuvor nicht bei ihm gestimmt hat. Das ist durchaus ein bisschen ungewöhnlich, kurios gar. Hauptdarsteller Shai Avivi, der vor allem für Komödien wie Ein Tag wie kein anderer oder Atomic Falafel bekannt ist, darf auch hier sein Talent zeigen. Denn je weiter Longing voranschreitet, umso eigenartigere Wendungen nimmt der Film, umso surrealer werden die Versuche der Beteiligten, Adam im Jenseits noch zu helfen.

Viele Arten des Weinens
Wobei dabei immer die Frage im Raum steht: Um wen geht es hier eigentlich? Geht es wirklich um den Jugendlichen, der auf eine so unglückliche und unnötige Weise ums Leben kam? Oder geht es um die Hinterbliebenen, die auf ihre Weise Trauer verarbeiten möchten? Das erinnert ein wenig an Alpen, in dem der griechische Ausnahmeregisseur Yorgos Lanthimos von einer sehr eigenwilligen Geschäftsidee zur Trauerbetreuung erzählte. So wie dort ist der Beitrag vom Filmfest München 2018 und des Jüdischen Filmfestivals Berlin & Brandenburg 2018 so skurril, dass man immer wieder versucht ist so lachen, wenn die eigentliche Geschichte nur nicht so furchtbar bitter und tragisch wäre. Ein Jugendlicher, der viel zu früh starb. Ein Mann, dem jetzt erst bewusst wird, was er verloren hat, und sich danach sehnt, es dennoch irgendwie festzuhalten.

Longing, das auf den Filmfestspielen von Venedig 2017 Premiere feierte, braucht eine Weile, bis es mal in die Gänge kommt. Ariel ist nicht unbedingt der sympathischste Protagonist, tritt rücksichtslos auf. Und auch die anderen Figuren mag man auf Anhieb nicht so wirklich. Doch der israelische Regisseur und Drehbuchautor Savi Gabizon, der sich hier nach einer jahrelangen Pause zurückmeldet, macht an der Stelle noch nicht Schluss. Er sucht noch weiter in den Abgründen, entdeckt bei den Eltern und dem Umfeld neue Spinnereien. Nicht einmal vor dem Verstorbenen scheut er zurück: Was zunächst wie eine idealisierte Romantisierung von Adam wirkt, zeigt nach und nach, dass praktisch jeder hier seine Macken hat, auf die eine oder andere Weise kaputt ist und war. Dass das Leben oft nicht nach Plan verläuft, hässlich ist, der Tod viel einfacher ist – da lässt sich wenigstens etwas organisieren, ohne dass die Betroffenen dazwischenreden.



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Ein Mann erfährt, dass er einen erwachsenen Sohn hatte, der gerade ums Leben gekommen ist. Von dieser Situation ausgehend erzählt „Longing“ die Geschichte einer ungewöhnlichen Annäherung, ist gleichzeitig bitter, tragisch und doch auch auf eine skurrile Weise komisch – vor allem später, wenn das überraschend hässliche Drama auch surreale Züge annimmt.
8
von 10