Chie the Brat
© 1981 Etsumi Haruki / Futabasha • Toho • Universal Music • TMS

(„Jarinko Chie“ directed by Isao Takahata, 1981)

Jarinko ChieSo eine Familie, die kann einen manchmal ganz schön in den Wahnsinn treiben. Nehmen wir doch Chies Vater Tetsu: Der ist spielsüchtig, ständig verschuldet, gewalttätig und auch sonst zu nichts zu gebrauchen. Kein Wunder also, dass seine Frau ihn schon vor langer Zeit verlassen hat. Da sich aber nun mal jemand um Haushalt und Finanzen kümmern muss, arbeitet das Mädchen im Familienrestaurant und muss dafür sorgen, dass das Geld nicht in falsche Hände gerät. Seine. Zum Glück ist Chie alles andere als auf den Mund gefallen, gibt nicht nur ihrem Vater Paroli, sondern auch den Yakuza, mit denen der ständig aneinander gerät.

Wer an Studio Ghibli denkt, dem fallen vor allem die vielen Klassiker von Hayao Miyazaki ein: Mein Nachbar Totoro etwa, Chihiros Reise ins Zauberland oder auch Das wandelnde Schloss. Die Werke von Mitbegründer Isao Takahata jedoch, die standen, von Die letzten Glühwürmchen vielleicht einmal abgesehen, immer im Schatten seines deutlich erfolgreicheren Kollegen. Noch krasser wird der Unterschied, wenn es um die Frühwerke der beiden Regisseure geht. Takahatas Serien Heidi und Marco dürften viele noch kennen, doch seine Filme, die sind selbst ausgewiesenen Animefans hierzulande oft unbekannt. Was kein Wunder ist, denn auf Deutsch ist davon kaum etwas erschienen. Was schade ist, wie das Beispiel Chie the Brat zeigt.

Grundlage des Films war die Mangareihe „Jarinko Chie“ von Haruki Etsumi, die immerhin von 1978 bis 1997 lief und somit eine der langlebigsten überhaupt wurde. Auch in Zeichentrickform waren die Erlebnisse der altklugen Chie ein Dauerbrenner, Takahata selbst führte bei der folgenden 64-teiligen Serie Regie, eine weitere mit 39 Episoden folgte Anfang der 90er. Eine durchgehende Handlung wurde in dem Auftakt nicht geboten, vielmehr erinnert Chie the Brat mit seinen vielen komischen Kurzgeschichten an Meine Nachbarn die Yamadas, ist vom Humor her aber derber, teilweise auch düsterer. So handelt eine besonders ausführliche Nebenhandlung von Chies Kater Kotetsu, der einem Artgenossen im Kampf einen Hoden rausgerissen und damit seiner Kraft beraubt hat. Und auch ein Koch, der Rotz und Wasser heult – wortwörtlich – bekommt eine längere Szene spendiert.

Das ist zwar nicht immer so witzig, wie es wohl gemeint war, aber schmunzeln darf man angesichts der absurden Vorfälle und der skurrilen Charaktere ohne Zweifel. Vor allem aber ist Chie the Brat ein charmanter Blick auf eine etwas zweifelhafte Nachbarschaft, die Menschen, die dort wohnen, und natürlich die dysfunktionale Familie von Chie. Gerade bei letzterem Punkt wird der sonst eher grobschlächtige Anime teils überraschend warmherzig und rührend. Gerade wenn das Mädchen versucht, ihre Eltern doch wieder zusammenzuschweißen, zeigt sich, dass hinter der schnodderigen Schnauze doch die kindliche Sehnsucht nach einer heilen Welt auf ihre Erfüllung wartet.

Optisch ist das Ganze einfach, aber doch gefällig geworden. Schön sind vor allem die vielen Details, mit denen das Animationsstduio Tôkyô Movie Shinsha (Das Schloss von Cagliostro, Akira) die Nachbarschaft zum Leben erweckt, uns mitnimmt ins Osaka der 60er Jahre und das glaubhafte Bild eines Alltags am unteren Ende der sozialen Hierarchie zeichnet. Stolz spielt hier eine große Rolle, die Demonstration von Stärke, selbst wenn man gar nicht zu den Gewinnern der Gesellschaft zählt. Vermutlich sogar vor allem dann. Auch bei den Figuren setzt Chie the Brat tendenziell auf Realismus, sieht man einmal von den überdimensionalen Zähnen und den kuriosen Ohren ab, die eher an Affen als an Menschen erinnern.

Das stärkste Werk in Takahatas langen Zeit als Regisseur ist Chie the Brat sicher nicht, dafür sind die Figuren dann doch zu grob, die Geschichte nicht interessant genug. Da es derzeit aber so aussieht, als wäre Die Legende der Prinzessin Kaguya sein letzter Film, und die Produktivität des Altmeisters ohnehin in den letzten Jahren stark zu wünschen übrig ließ, lohnt es sich nach dieser Komödie einmal Ausschau zu halten. Eine deutsche Version existiert wie gesagt nicht, offiziell nicht einmal eine englische. Eine von Fans mit englischen Untertiteln versehene Fassung lässt sich aber auf YouTube finden, alternativ ist der Anime in Frankreich auch unter dem Titel Kié la petite peste erhältlich.



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Chie, wer soll denn das sein? Selbst bei Animefans ist Takahatas Film über ein altkluges Mädchen und ihre kaputte Familie kaum bekannt. Dank der gefälligen Optik mit den vielen Details, den absurd-komischen wenn auch manchmal derben Szenen und der Warmherzigkeit ist das charmante Frühwerk aber auf jeden Fall ein Geheimtipp.
7
von 10