Marco
© Studio 100

(„Haha o Tazunete Sanzenri“ directed by Isao Takahata, 1976)

Marco
„Marco“ ist seit 1. April auf DVD erhältlich

Ende des 19. Jahrhunderts leidet Europa unter den Folgen einer Wirtschaftskrise. Besonders schlimm trifft es die Leute in Italien, viele wandern nach Südamerika aus, um dort ihr Glück zu suchen. Auch Anna Rossi versucht in Argentinien, die knappe Familienkasse aufzubessern und so das von ihrem Mann betriebene Armenkrankenhaus zu unterstützen. Der Abschied fällt schwer, gerade Sohn Marco leidet schon sehr unter der Trennung. Doch das Wissen, dass es hier um eine gute Sache geht, hilft ihm dabei, mit der Situation fertig zu werden. Als aber eines Tages die Briefe ausbleiben, wächst in dem Jungen die Sorge, dass seiner Mutter etwas zugestoßen sein könnte. Und so beschließt er wider des Willens des Vater, sich auf die lange Reise über den Ozean zu machen und selbst nach dem Rechten zu sehen.

Auch wenn Heidi sicherlich das bekannteste Frühwerk von Studio-Ghibli-Mitbegründer Isao Takahata darstellt und bis heute weltweit Spuren hinterlassen hat, es gab eine Zeit, da war auch sein zweiter großer Beitrag zur Klassikerreihe World Masterpiece Theater ein absolutes Fernsehereignis: Millionen von Kindern klebten von Südamerika über Europa bis in die arabische Welt vor den Bildschirmen, um sich über den frechen Affen Pepino zu freuen und mitzufiebern, ob Marco nun seine Mutter findet oder nicht. Heute wird über den Anime nur noch recht selten gesprochen, was eigentlich schade ist, stellt er doch in mehrfacher Hinsicht eine Verbesserung zu der berühmten TV-Schwester dar.

Da wäre zum einen die interessantere Titelfigur: Anders als die sehr zum Plärren neigende Heidi ist Marco bei aller kindlicher Dickköpfigkeit und Selbstüberschätzung durchaus um Vernunft bemüht. Tatsächlich ist einer der spannendsten Aspekte der ständige Zwiespalt des Jungen, sein Versuch, sich in der Welt der Erwachsenen zu finden und zu behaupten. Dabei wird aus ihm nie mehr gemacht, als er ist. Ein bisschen idealisiert ist er natürlich schon, kaum ein Kind würde wohl je den Mut aufbringen, allein durch die ganze Welt zu reisen. Aber zwischenzeitlich ist er eben auch der kleine Junge, der vieles nicht kann, vieles nicht versteht.

Allgemein ist es bemerkenswert, wie wenig sich die Serie in Heile-Welt-Szenarien aufhält. Schon während des unschuldigen Herumtollens in der ersten Folge breitet sich der dunkle Schatten des baldigen Abschieds aus, später wird in einer für Kinder produzierten Sendung erstaunlich explizit das Leben in Armut gezeigt: Menschen, die sich keine Medizin leisten können, denen eine Perspektive fehlt, die in Mülltonnen nach Essen suchen oder einen Maiskolben als Puppe verwenden, da das Geld für eine echte nicht reicht.

Am stärksten ist die Teilverfilmung des Romans „Cuore“ des italienischen Schriftstellers Edmondo De Amicis dann auch, wenn es sich ganz auf den Alltag konzentriert und das Leben der kleinen Leute aufzeigt, vom Ende des 19. Jahrhunderts erzählt, als Maschinen erstmals Menschen ersetzten. Schwieriger wird es, wenn im weiteren Verlauf zunehmend der Abenteueraspekt in den Vordergrund rückt. Auch hier gibt es eine Reihe spannender Geschichten zu erzählen, etwa bei der Überfahrt auf dem Schiff. Zum Schluss hin baut die Serie jedoch stark ab, da sie immer absurder wird, gleichzeitig aber auch einfallslos.

Viele Folgen bestehen nur daraus, dass der Junge in einer neuen Stadt ankommt, dort seine Mutter vermutet, die jedoch kurz vorher schon weiter gereist wird. Das hätte durchaus ein Running Gag sein können, ist hier jedoch ernst gemeint, was kaum zum authentischen Ton der Geschichte passt und zu sehr unschönen Längen führt. Ebenfalls nicht durchdacht: Dass ein italienischer Junge sich in dem spanischsprechenden Argentinien mit jedem unterhalten kann, leuchtet nicht ein, die Chance, die Verlorenheit Marcos auch durch die Sprachbarriere zu verdeutlichen, wird komplett außer Acht gelassen.

Optisch ist das Werk des Traditionsstudios Nippon Animation (Sindbad, Alice im Wunderland) auf einem so guten Niveau, wie man es von einer 52-teiligen Serie Mitte der 1970er erwarten kann. Manche der Bewegungen sind gut umgesetzt, etwa die von Äffchen Pepino, andere sind etwas bescheidener, allzu viele Details sollte man bei den Hintergründen besser nicht erwarten. Übrigens setzte das Studio das literarische Vorbild noch einmal als komplette Serie um, anstatt wie hier nur eine Geschichte daraus zu verwenden. Die ist jedoch niemals in Deutschland erschienen, selbst als Importprofi muss man auf Cuore verzichten. Interessant wäre ein solcher Vergleich sicher gewesen, Marco ist aber auch als eigenständiges Werk 40 Jahre nach seiner Produktion ein sehenswertes Stück Animegeschichte. Wer mehr über die Ursprünge Takahatas erfahren will, mit der Serie damals aufgewachsen ist oder eine zumindest über weite Strecken bewegende und spannende Geschichte sehen und hören will, der darf sich bei aller Kritik daher über die Wiederveröffentlichung in einer günstigen Gesamtbox freuen.



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Das Frühwerk von Animelegende Isao Takahata ist auch 40 Jahre später für seine erstaunlich ungeschönte Darstellung von Armut und die bewegende Suche eines Jungen nach seiner Mutter sehenswert. Nur zum Ende hin schwächelt „Marco“ recht deutlich, wenn sowohl Abwechslung wie auch Glaubwürdigkeit stark nachlassen.
7
von 10