Serial Experiments Lain
Teil 30: Serial Experiments Lain (1998)

(„Serial Experiments Lain“ directed by Ryûtarô Nakamura, 1998)

Serial Experiments LainWie schon letzte Woche widmen wir uns auch dieses Mal im fortlaufenden Animationsspecial einem Werk, welches die Beziehung von Mensch zu Technik näher beleuchtet. Mehr noch als Technotise zeigte sich Teil 30 dabei visionär, denn einige der hier gestellten Fragen sind heute relevanter als damals – und noch immer genauso schwer zu beantworten.

Ist es ein geschmackloser Scherz? Oder eine technische Panne? Als die Schüler einer 8. Klasse E-Mails ihrer Mitschülerin Chisa erhalten, ist die Aufregung groß, schließlich hat die sich einige Tage zuvor das Leben genommen. Auch Lain gehört zu den Empfängern dieser mysteriösen Nachrichten, in denen behauptet wird, Chisa sei Teil des Wired geworden – einem internationalen Netzwerk vergleichbar zum Internet. Erstmals beginnt sich Lain für Computer und Technik zu interessieren und selbst das Wired zu erkunden. Doch was sie dort findet, stellt alles in Frage, was sie jemals über ihr Leben zu wissen glaubte.

„Gott ist hier“ steht in der Nachricht der Verstorbenen, mit der die Geschichte von Serial Experiments Lain beginnt. Und Gott ist auch eines der vielen Themen, die während Lains virtueller Reise angeschnitten werden. „Layers“ nannten die Macher die insgesamt 13 Episoden der Fernsehserie. und wie der Name schon sagt, legen wir immer mehr Schichten frei, tauchen immer tiefer in das Wired ein, in diese eigenartige Parallelwelt. Ähnlich zu den Werken von Satoshi Kon ist dabei oft nicht ganz klar, wo die Realität aufhört und das Leben im Netz beginnt. Kompliziert wird es unter anderem auch deshalb, weil es jeden Menschen zweimal gibt, einmal im wahren Leben, einmal als Wired-Version – und wie wir inzwischen wissen, müssen unsere Abbilder im Netz nicht viel mit uns zu tun haben. Unser zweites Ich ist das, was wir draus machen: cooler, erfolgreicher, härter.Serial Experiments Lain Szene 1

Was macht diese Technologie mit uns? Wieviel davon sind wir? Drehbuchautor Chiaki J. Konaka, sonst eher im Horrorbereich daheim, begann seine Geschichte zwar als eine Art Mystery-Thriller, wendet sich im weiteren Verlauf aber der sehr viel irdischeren Angst vor den Möglichkeiten der Technik zu, der Unsicherheit, was eine Vernetzung der Menschen denn eigentlich bedeutet. Linear ist dieser Verlauf nicht, Serial Experiments Lain springt von Thema zu Thema, die einzelnen Episoden stehen in keinem erkennbaren direkten Zusammenhang, erklärt wird auch nur wenig. Das macht es für die Zuschauer natürlich schwierig. Da zudem die Erzählweise von Regisseur Ryûtarô Nakamura sehr ruhig ist, dürfte so manch einer zwischendurch frustriert das Handtuch werfen.

Doch das Dranbleiben lohnt, nicht nur weil gerade in der zweiten Hälfte eine Menge provokative Denkanstöße geliefert werden zu Religion, Identität und der Bedeutung von Erinnerungen. Auch atmosphärisch ist Serial Experiments Lain selbst 16 Jahre nach seiner Erstausstrahlung eine Serie, die sich kaum mit anderen vergleichen lässt. Dabei ist es nicht einmal die Optik, die so großen Eindruck hinterlässt. Wo andere Regisseure mit spektakulären Animationen oder Effektgewittern beeindrucken wollen, begnügte man sich hier mit den Notwendigsten: Figuren und Hintergründe sind einfach gehalten, die Bewegungen genauso. Und doch bleiben die Charakterdesigns in Erinnerung: Deren Schöpfer Yoshitoshi ABe war als Kind ohne Manga aufgewachsen, nur wenig eint daher Lain mit den Helden anderer Anime.Serial Experiments Lain Szene 2

Wirklich bemerkenswert sind jedoch die kleinen, enorm effektiven Mittel, mit denen die Serie des Animationsstudios Triangle Staff (Legend of Crystania, Venus Wars) seine mysteriöse Atmosphäre erzeugt: Die Schatten sind rot statt schwarz, Figuren im Hintergrund farb- und bewegungslose Schemen, die Gebäudegrenzen sind aufgehoben, oft sind die Aufnahmen so stark überbelichtet, dass Türen scheinbar ins Nichts führen. Wenn dann auch noch vereinzelt Realaufnahmen hinzukommen, abstrakte Bilder mit Stimmen aus dem Off die Handlung unterbrechen, die Protagonisten regelmäßig Halluzinationen haben und selbst die Musik verfremdet ist, stellt sich auch außerhalb des Wired das Gefühl ein, nicht mehr Teil der Realität zu sein.

Kein Wunder also, dass Serial Experiments Lain noch immer Kultstatus genießt. Jahre vor noitaminA bewies die Serie zusammen mit Neon Genesis Evangelion und Cowboy Bebop, dass auch im Fernsehen Anime anspruchsvolle und relevante Geschichten erzählen können, und öffnete damit die Tür für weitere eigenwillige TV-Sendungen wie Boogiepop Phantom. Doch auch wenn Nakamura, Konaka und ABe im Anschluss kein vergleichbar einflussreiches Werk mehr veröffentlichen sollten, dem Serienformat blieben sie treu und schufen eine Reihe weiterer Fanfavoriten.

Von ABe stammten beispielsweise die Konzepte für NieA 7 und Haibane Renmei, zusammen mit Konaka war er auch am hochgelobten Texhnolyze beteiligt. Der wiederum arbeitete mit Nakamura an der Mystery-Serie Ghost Hound. Und auch Nakamuras Kino’s Journey taucht regelmäßig auf Anime-Must-See-Listen auf. Ein weiteres geplantes Werk der drei blieb leider unvollendet: Despera, welches das zweite Mal sein sollte, dass das Dreamteam zusammenkam, scheiterte vorzeitig, als Nakamura 2013 verstarb. Doch im Netz ist er unsterblich geblieben, einen wirklichen Tod gibt es dort nicht – so wie er es in Lain seinerzeit prophezeit hatte.



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Die nichtlineare Erzählweise und die fehlenden Erklärungen können frustrierend sein, aber dank der ungewöhnlichen Inszenierung und der geradezu visionären Fragen zum Thema Mensch und Internet ist die Serie noch immer ein Vorzeigebeispiel für anspruchsvolle Anime im Fernsehen.
8
von 10