Die Stunde des Léon Bisquet

Die Stunde des Léon Bisquet

(„Die Stunde des Léon Bisquet“ von Lutz Böscher, 1986)

„Ich werde es allen zeigen…“

Als der Schweizer Diogenes Verlag ankündigte, eine Edition von 50 Romanen des belgischen Schriftstellers Georges Simenon zu veröffentlichen (wohlgemerkt lediglich die Non-Maigret Werke betreffend), fragte sich die Fangemeinde nicht nur, ob in dieser Edition der immer wieder vergessene „Neger“ eingeschlossen sein wird (nein, wurde er nicht) und falls ja, ob er denn in der heutigen Zeit noch unter diesem Titel erscheinen würde. Anstatt den politisch heute nicht mehr korrekten Titel zu ändern, brachte Diogenes den besagten Roman, der im Oeuvre des Schöpfers von Kommissar Maigret ein Schattendasein fristet, gar nicht erst heraus und so verpasste der angesprochene Krimi wieder eine Gelegenheit, ins Rampenlicht gerückt zu werden. Diese Chance erhält er nun indirekt von Pidax Film, denn das DVD-Label hat eine Fernsehverfilmung (die einzige Verfilmung dieses Stoffes) auf Datenträger veröffentlicht und somit nicht nur Simenon-Fans zugänglich gemacht.

In Simenons Buch ist Léon Bisquet (Klaus Schwarzkopf) ein kleiner, einsamer Bahnhofsvorsteher, dem im jungen Alter ein Auge ausgeschossen wurde. In der Verfilmung des ZDFs ist Léon Bisquet ein kleiner, einsamer Bahnhofsvorsteher, der noch beide Augen sein Eigen nennen kann. Tag für Tag erträgt er das triste Leben in einem ruhigen Dorf, wo er lediglich zwei Züge pro Tag abzufertigen hat. Seine Frau hat ihn verlassen, seine Tochter ist fortgezogen und gilt als Hure. Nur sein Papagei Coco leistet ihm Gesellschaft, während er träge vor einer Flasche Wein sitzt und seine Zigarren raucht. Ab und zu kommt eine Prostituierte, die zusammen mit seinen Besuchen im nahegelegenen Lokal den Alltag des Vorstehers bestimmt. Es ist nicht viel los in diesem Kaff – auch nicht, als der reichste Mann der Umgebung plötzlich stirbt. Bisquet misst diesem nicht viel Bedeutung bei und auch der Zuschauer nimmt das ohne sonderlich viel Interesse entgegen. Doch der Drehbuchautor Egon Eis vermag zwei scheinbar voneinander unabhängige Handlungsstränge geschickt zu verknüpfen.

An einem Abend beobachtet Léon Bisquet einen Farbigen, der aus dem vorbeifahrenden Zug springt und sich alsbald aus dem Staub macht. Niemand sonst scheint ihn gesehen oder gar zur Kenntnis genommen zu haben. Bisquet, der von allen ständig gedemütigt und nie ernst genommen wird, zuckt mit den Schultern. Das ändert sich, als am nächsten Morgen der schwarze Unbekannte tot in einer Böschung aufgefunden wird. Kommissar Lamotte (Günther Mack) erscheint auf der Bildfläche und schnell wird aus der anfänglichen Unfalltheorie eine Spekulation über Mord. Bisquet ist hellwach. Plötzlich wird ihm klar, dass er etwas weiß, was sonst niemand weiß und immer wieder murmelt er stolz und selbstbewusst „Ich werde es noch allen zeigen“. Anstatt mit seinem Wissen zur Polizei zu gehen, stellt er Nachforschungen auf eigene Faust an und das bringt ihn nach und nach immer mehr in Bedrängnis. Langsam aber sicher zieht er sich die Schlinge um seinen eigenen Hals immer fester zu. Es ist die Tragödie des Léon Bisquet.

All das klingt nach einer typischen Geschichte des belgischen Schriftstellers Simenon, der immer wieder seine Anti-Helden in den Abgrund stürzen lässt. Die Konzeption der Figur des Bahnhofsvorstehers ist demnach keine neue oder gar originelle. Wie so oft ist es hier der einsame, kleine Mann, der den Wunsch hat, in der Gesellschaft besser dazustehen. Als er seine große Chance kommen sieht und sich einen Aufstieg erhofft, katapultiert er sich selber in den schwärzesten Abgrund und taumelt blindlings in eine unaufhaltsame Katastrophe. Der Zuschauer wird Zeuge eines Absturzes – und Atmosphäre sowie Psychologie waren bei Simenon schon immer wichtiger als die eigentliche Handlung.

Regisseur Lutz Büscher fängt mit einer exzellenten Kameraarbeit von András Szalai diese triste Stimmung sehr geschickt ein. Dass der Film von Zeit zu Zeit etwas träge erscheinen mag, liegt wohl genau daran – an dieser beklemmenden, schwermütigen Atmosphäre. Und auch daran, dass sich Die Stunde des Léon Bisquet wie ein jeder guter Simenon sehr langsam aufbaut um schließlich zu einem alles zerstörenden Klimax zu kommen, der hier unglücklicherweise in einer arg konstruierten Verfolgungsjagd endet, die nicht nur anmutet, wie ein schlecht konzipierter Tatort, sondern mit der unerträglich gealterten Synthesizer-Musik von Klaus-Multimillionär-Doldinger auch schnell enervierend wirkt.

Davon abgesehen kann man dieser äußerst gelungenen Verfilmung nur wenig vorwerfen. Am wenigsten ihren Darstellern, denn vor allem Klaus Schwarzkopf, dessen Stimme vielen Hörern durch Columbo bekannt vorkommen dürfte, erweist sich nicht nur als Idealbesetzung, sondern liefert eine erstklassige und zu jedem Zeitpunkt überzeugende Ein-Mann-Show, die vor allem im Zusammen- bzw. Gegenspiel mit Günther Mack als Kommissar zum Tragen kommt. Denn in diesen Gesprächen wird der kleine, unbedeutende Bahnhofsvorsteher – dadurch, dass der Film durch seine Sicht erzählt wird – behandelt wie ein Hauptverdächtiger und bis zum Schluss lässt sich nur raten, durch welches Unglück Bisquet zerstört wird. Diesem Mann – und das wird durch die immer intensiver werdende Charakterstudie bald deutlich – geht es nicht um Geld, sondern schlicht um Anerkennung, für die er sein Leben lang gekämpft, diese aber nie erhalten hat. Lutz Büschers stimmungsvoller Fernsehfilm vermag das glaubhaft zu transportieren und erfährt von Pidax-Film eine liebevolle DVD-Umsetzung mit zufriedenstellender Bild- und Tonqualität, sieht man einmal von einigen verrauschten Bildern am Ende ab.

Die Stunde des Léon Bisquet ist seit 1. Juli auf DVD erhältlich



(Anzeige)

8
von 10