
Irgendwo in Litauen: Die 13-jährige Marija (Vesta Matulytė) wird zu ihrer Großmutter geschickt, um vorübergehend bei dieser in einer verwahrlosten Industriestadt zu leben. Nachdem sie von der gleichaltrigen Kristina (Ieva Rupeikaitė) zuerst wegen ihrer Gehbehinderung als „Hinkebein“ verspottet wird, schließen die beiden Mädchen unerwartet Freundschaft. Gemeinsam nehmen sie an einem Modeltraining teil, das sie und anderen Teenagerinnen dem Traum näherbringen soll, der trostlosen Perspektivlosigkeit ihrer aktuellen Lebensumstände zu entfliehen. Um sich ihrem Ziel zu nähern, greifen die Mädchen zu extremen Mitteln.
Eine Erzählung von Gewalt und fehlender Perspektive
Der Titel von Toxic ist überaus treffend gewählt, denn so gut wie alles darin ist vergiftet, destruktiv, schädlich. Auch wenn die Handlung sich zuspitzt und im Publikum zunehmende Anspannung hervorruft, so wird der Film doch von Anfang an von toxischem Verhalten, von verschiedensten Formen der Gewalt beherrscht und betrifft im Besonderen die Körper der Mädchen. Das beginnt schon vor dem Einsatz der eigentlichen Handlung, als Marija – offenbar gegen ihren Willen – von der Familie zu ihrer Großmutter geschickt wird und wiederholt sich später, als sie – nachdem sie sozialen Anschluss gefunden hat – wieder zurückgehen soll. Wie eine Spielfigur soll sie nach Lust und Laune hin- und hergeschoben werden.
Und es geht so weiter: Das Kennenlernen von Marija und Kristina als Mobbingopfer und Mobberin ist durch Gewalt gekennzeichnet. Die Modelschule betrachtet die Mädchen als Ware von der Stange, als reine Geldquelle. Und natürlich ist auch sexualisierte Gewalt nie fern. Die weiblichen Teenagerinnen haben dies alles fast vollständig internalisiert, befeinden sich untereinander und scheinen ihre Körper selbst als Nutzgegenstand auf dem Weg zu einem besseren Leben zu betrachten: Sie betäuben sich mit Zigaretten, Alkohol und anderen Rauschmitteln, lassen sich auf einer Rasthoftoilette unter alles andere als hygienischen Bedingungen Piercings stechen und greifen zu selbstzerstörerischen Maßnahmen, um die als notwendig geltenden Modelmaße zu erreichen..
Der Film wird linear und ruhig erzählt, was im starken Kontrast zu den Inhalten steht, die er abbildet und wie innerlich aufwühlend diese für die Zuschauer:innen sind. Echte Menschlichkeit scheint rar gesät und geht in den meisten Fällen von Marija aus: Sie hilft ihrer Großmutter auf der Treppe vor dem Haus eine Zigarette zu drehen, zeigt sich zögerlich angesichts der extremen Mittel, die Kristina für ihren erhofften Erfolg als Model anwendet und widerspricht ihr, als diese Victim Blaming gegenüber einem anderen Mädchen betreibt. Sie ist zweifellos die Protagonistin des Films und trotz ihres moralischen Kompasses keineswegs eine Heldin, dazu ergibt sie sich zu häufig dem Peer Pressure der anderen, äußert kaum wirklich ihre Haltung oder gar Kritik, und ist auch nicht entschlossen genug, um Schlimmes zu verhindern.
Doch das kann man von einer 13-Jährigen in solch einer prekären Lebenssituation auch nicht erwarten, oder? So wie Marija kaum Worte für ihre unguten Gefühle findet, verweigert auch der Film manche Antworten: Warum gehen die Jugendlichen nicht in die Schule? Wovon leben die Menschen dort überhaupt? Was ist aus der früher existierenden Industrie geworden? Doch der Film will auch gar nicht darstellen, wie der Status Quo zustande gekommen ist, sondern diesen vor allem zeigen. Es gibt keine erklärenden Monologe oder Off-Stimme, und auch die Dialoge fließen nicht gerade über vor Wortreichtum. Vielmehr wirkt das Unausgesprochene, das Ungetane, was den inneren Druck umso spürbarer macht.
Beeindruckende Bildsprache und Cast
Besonders bestechend ist auch die hervorragende Bildsprache von Toxic. Die Kamera von Vytautas Katkus fängt die Ödnis und Ausweglosigkeit der Industrieästhetik derart gekonnt ein, dass man jedes einzelne Szenenbild als Schwarz-Weiß-Fotografie rahmen und in eine Foto-Ausstellung hängen könnte. Egal ob man die Mädchen vor der Modelschule draußen aus der Vogelperspektive herumhängen sieht, Marija und ihre Großmutter durch einen Drahtzaun beobachtet oder eine Jeans an der Wäscheleine hängt: Die Kamera nimmt immer wieder interessante und ungewähnliche Blickwinkel ein und die Bildkomposition ist formvollendet. Dabei gelingt auch eine diffizile Gratwanderung des Films: Einerseits zu thematisieren, wie die Mädchenkörper objektifiziert und benutzt werden, dies andererseits aber nicht selbst zu vollziehen, sondern eine emotionale Nähe zu den Figuren herzustellen, zum Beispiel, wenn die Kamera Marija und Kristina in schlafender Umarmung zeigt – einem stillen, unschuldigen Moment.
Auch die Darsteller:innen geben eine glänzende Vorstellung ab, ganz besonders Vesta Matulytė als Marija und Ieva Rupeikaitė als Kristina, denen es gelingt, die zuerst fragwürdige, häufig toxische, letztendlich aber doch anhaltende Freundschaft der jugendlichen Protagonistinnen glaubwürdig gestalten, auch wenn sie sich den Zuschauenden nicht immer erschließt. Interessant ist auch, dass Vesta Matulytė selbst als Model arbeitet und mit dem ganzen schwierigen Business darum vertraut sein dürfte.
Der Film wiederum basiert auf den persönlichen Erfahrungen der Regisseurin Saulė Bliuvaitė, die selbst in einem kahlen Industriegebiet aufwuchs und durch Modelarbeit daraus versuchte auszubrechen. Womöglich gelingt es ihrem Filmdebüt daher so gut, die Mädchen mit allen ihren Schwächen und fragwürdigen Entscheidungen darzustellen, ohne sie zu verurteilen und – ganz im Gegenteil – viel Mitgefühl für ihre Situation aufzubringen.
Toxic zeigt letztendlich keine gänzlich neuen Erkenntnisse: Das Modelbusiness ist gnadenlos und zerstörerisch, und auch abseits davon ist der Umgang mit weiblichen (Teenager-)Körpern oft problematisch. Doch Saulė Bliuvaitė bringt das Ganze mit ihrer ganz einzigartigen Handschrift in vortrefflicher Form auf die Leinwand und setzt es mit der verwahrlosten Industrie in Litauen und der Ausweglosigkeit für dort aufwachsende Jugendliche in einen interessanten neuen Kontext. Das Resultat ist ein Debütfilm voller starker Bilder, der zwar nicht alles schlüssig und nachvollziehbar macht, dafür aber viele relevante Fragen anstößt, die noch lange im Publikum nachhallen können.
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