Zehn Jahre lang hat Rona (Saoirse Ronan) in London gelebt, war dort überglücklich mit ihrem Partner Daynin (Paapa Essiedu), hatte eine gute Stelle, war viel unterwegs mit Freundinnen. Doch all das ging mit der Zeit verloren, als sie dem Alkohol verfielt und zunehmend die Kontrolle verlor. Nun lebt sie auf einer abgelegenen Insel vor Schottland, wo sie nach einer selten gewordenen Vogelart Ausschau hält. In der Einsamkeit findet sie die Möglichkeit, wieder zur Ruhe zu kommen. Doch immer wieder kehren ihre Gedanken zurück in ihre Vergangenheit, an die Zeit in London. An ihren bipolaren Vater Andrew (Stephen Dillane) und ihre streng gläubige Mutter Annie (Saskia Reeves), deren Ehe vor vielen Jahren gescheitert ist. Und an all das, was sie selbst verloren hat …
Rückblick einer Alkoholikerin
Nach ihrem sensationellen Spielfilmdebüt Systemsprenger schienen der deutschen Regisseurin Nora Fingscheidt alle Türe offenzustehen. Und so wagte sie gleich bei ihrem zweiten Langfilm The Unforgivable den Sprung nach Hollywood. Die Netflix-Produktion um eine aus dem Gefängnis entlassene Frau konnte mit einem imposanten Cast protzen, darunter Sandra Bullock in der Hauptrolle. Die Streamingzahlen waren ebenfalls beeindruckend. Die Kritiken waren jedoch ernüchternd, nach dem deutschen Höhenflug folgte der internationale Absturz. So richtig wusste man deshalb nicht, was man bei dem dritten Film The Outrun zu erwarten hatte, bei dem sie, anders als bei dem zweiten Werk, wieder am Drehbuch beteiligt war. Ob das der Grund ist, dass die Qualität wieder besser ist, darüber lässt sich streiten. Nach dem enttäuschenden Vorgänger ist das hier aber zumindest wieder sehenswert.
Wobei die Geschichte nicht auf die deutsche Filmemacherin zurückgeht. Vielmehr dient das autobiografische Buch Nachtlichter von Amy Liptrot als Vorlage. Die preisgekrönte schottische Journalistin, die mit Fingscheidt das Drehbuch schrieb, hält darin ihre Erfahrungen als Alkoholikerin fest. Diese sind nicht wirklich anders als die, die man aus anderen Filmen zum Thema kennt. The Outrun ist voll von Szenen, in denen die Protagonistin die Kontrolle verliert, alles kaputt macht und die Menschen von sich stößt, die ihr nahestehen. Das Drama schildert diese Szenen aber nicht in chronologischer Reihenfolge. Vielmehr springt der Film konstant durch die Zeit, ist mal in London, mal bei den Eltern, mal in dem abgelegenen Häuschen in der schottischen Einöde. Ein wirkliches Konzept ist bei der Wahl der Szenen nicht auszumachen, wohl der Sprunghaftigkeit von Erinnerungen folgend, die sich wieder den Weg zurück in Ronas Bewusstsein bahnen.
Sehenswertes Drama
Das kann schon verwirrend sein, gerade zu Beginn, wenn man noch keine Ahnung hat, wer diese Leute sind. Etwas irritierend sind auch die gelegentlichen wissenschaftlichen Einschübe, die wohl als Kontrast zu der Irrationalität und dem emotionalen Chaos dienen sollen. Die Alkoholikerszenen sind dabei noch die weniger interessanten Passagen. Sie sind zum Teil zwar intensiv, aber doch irgendwie austauschbar. Spannender ist The Outrun, wenn es um die Familiengeschichte geht und wir mehr über die Eltern erfahren. Sowohl der bipolare Vater, der Aussetzer hat oder mal phlegmatisch auf dem Sofa liegt, wie auch die Mutter, die nach Jahren des Unglücks ihr Heil im Beten fand, haben emotionale Momente. Zu Herzen gehen zudem die Szenen, wenn Rona den Zugang zu anderen findet.
Das ist auch der exzellenten Besetzung wegen sehenswert. Natürlich ist Saoirse Ronan (Lady Bird, Little Women) ist dabei das Aushängeschild, kann sich aber auf die Unterstützung durch das restliche Ensemble verlassen. Und dann wären da noch die umwerfenden Aufnahmen der rauen schottischen Inselnatur, die mal idyllische Stille, mal rauschende Stürme bedeuten. Zu sehen gibt es in dem Drama, das 2024 auf dem Sundance Film Festival Weltpremiere hatte, also einiges. The Outrun mag am Ende zwar keine Preise abräumen, wie es bei der literarischen Vorlage der Fall war. Aber es ist ein sehenswertes Porträt einer Frau, die zwischen Vergangenheit und Zukunft steht und lernen muss, mit diesen inneren Dämonen und alten Gespenstern ein gemeinsames Leben zu finden.
OT: „The Outrun“
Land: UK, Deutschland
Jahr: 2024
Regie: Nora Fingscheidt
Drehbuch: Nora Fingscheidt, Amy Liptrot
Vorlage: Amy Liptrot
Musik: John Gürtler, Jan Miserre
Kamera: Yunus Roy Imer
Besetzung: Saoirse Ronan, Paapa Essiedu, Stephen Dillane, Saskia Reeves, Nabil Elouahabi, Izuka Hoyle, Lauren Lyle
Sundance Film Festival 2024
Berlinale 2024
Filmfest Hamburg 2024
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