Nahschuss
Szenenbild aus Franziska Stünkels "Nahschuss" (© Alamode Film)

Franziska Stünkel [Interview]

Franziska Stünkel Nahschuss Interview
© Marc Theis

Franziska Stünkel ist eine deutsche Regisseurin, Drehbuchautorin, Filmproduzentin und Fotokünstlerin. Als Filmemacherin wurde Stünkel bekannt durch ihren Spielfilm Vineta, einer Verfilmung des Theaterstücks Republik Vineta von Moritz Rinke, für den sie mit namhaften Schauspielern wie Peter Lohmeyer, Justus von Dohnányi, Matthias Brandt und Susanne Wolff zusammenarbeitete. Für ihr Drehbuch war sie für den Förderpreis Deutscher Film 2006 nominiert sowie für den Prix Genève Europe – Bestes Europäisches Drehbuch. Ein Jahr später wurde Vineta mit dem Remi Silver Award beim Internationalen Filmfestival Houston ausgezeichnet. Neben Vineta führte Stünkel zudem bei dem 18-stündigen Dokumentarfilm Der Tag der Norddeutschen Regie, welcher das Leben von 121 Menschen an einem einzigen Tag einfängt und für den sie und ihr Team rund 700 Stunden an Material zusammenschnitten.

Außerhalb ihrer Arbeit als Filmregisseurin drehte Stünkel für viele Bands Musikvideos, beispielsweise für Selig, Fury in the Slaughterhouse, Jan Plewka oder Heinz Rudolf Kunze. Darüber hinaus ist Stünkel eine bekannte Fotokünstlerin. Seit über zehn Jahren ist ihre fotografische Serie Coexist in Museen, Kunstinstitutionen und Galerien zu sehen. Coexist ist ein Langzeit-Projekt, für welches sie in viele Länder der Welt reist, wo sie Aufnahmen des urbanen Lebens macht, mit einem besonderen Fokus auf natürlichen Spiegelungen in Schaufenstern. Beispiele für ihre fotografische Arbeit finden sich auf ihrer Homepage.

Acht Jahre recherchierte und schrieb Franziska Stünkel das Drehbuch zu ihrem zweiten Kinospielfilm Nahschuss. Den Film stellte sie als Regisseurin im Jahr 2021 fertig. Franziska Stünkel arbeitete mit Schauspielern wie Lars Eidinger, Luise Heyer und David Striesow in den Hauptrollen. Für das Drehbuch zum Film, der sich mit der Thematik der Todesstrafe in der DDR auseinandersetzt, erhielt Stünkel den Förderpreis Neues Deutsches Kino. Außerdem wurde Nahschuss in die Vorauswahl für den Deutschen Filmpreis aufgenommen und in die Auswahl als deutscher Oscarbeitrag 2022.

Anlässlich der Heimkinoveröffentlichung am 28. Januar 2022 unterhalten wir uns mit Franziska Stünkel über die Inspirationen zum Film, die Trennung von Fiktion und Fakt sowie die Wichtigkeit von Stille und von Atmen für Nahschuss.

 

Nahschuss erzählt von dem letzten Todesurteil, das in der DDR vollstreckt wurde, sowie die Geschichte dessen Opfers Dr. Werner Teske. Sie sagten, dass eine Fotografie Teskes die Inspiration für den Film gab. Was haben Sie auf dem Foto gesehen, was es für Sie so wichtig machte?

Vor zehn Jahren las ich in einem Zeitungsartikel in einem Nebensatz, dass es die Todesstrafe in der DDR gegeben hat. Während meiner Recherche und der Arbeit am Drehbuch, die viele Jahre in Anspruch nahm, kam ich zu der Erkenntnis, dass es durchaus so ist, dass diese Tatsache über die DDR vielen Menschen nicht geläufig ist und es für mein Gefühl nicht wirklich Teil der kollektiven Erinnerung an diese Zeit ist. Das Thema Todesstrafe ist global betrachtet heute erschreckenderweise noch immer aktuell. Gegenwärtig wenden über 50 Staaten die Todesstrafe an. Selbstverständlich trete ich entschieden für die Abschaffung der Todesstrafe ein. Das Thema Todesstrafe war aber nur ein Aspekt, denn letztlich den Anstoß für das Projekt gab das Schicksal des Dr. Werner Teske und eine Fotografie von ihm. Er war der letzte von nach heutigem Wissensstand insgesamt 166 Menschen, die der Todesstrafe in der DDR zum Opfer fielen. Das Foto, was ihn am Tag seiner Inhaftierung zeigt und welches man auch heute noch im Internet findet, zeigt einen 38-jährigen Menschen von einer ungemeinen Ausstrahlung und mit einem sehr sensiblen Blick. Ich fragte mich, was diesem Menschen widerfahren ist, und die Beantwortung dieser Frage wurde zu einem treibenden Motor für die Recherchearbeit.

Damals las ich außerdem eine Kurzvita über ihn, die zeigte, dass er Wissenschaftler an der Humboldt-Universität war und später Mitglied des Geheimdienstes wurde. Dieser Werdegang und das Foto waren die Gründe, warum ich mich auf den Weg machte, diese Geschichte zu verfilmen.

Wie sehen Sie den Zusammenhang zwischen Authentizität und Fiktion bei einem Projekt wie Nahschuss?

Für Nahschuss durften wir an einigen historischen Orten drehen, wie beispielsweise der Haftanstalt in Berlin-Hohenschönhausen oder der einstigen Zentrale der Staatssicherheit in der Normannenstraße, genauso wie in einem Hörsaal der Universität Potsdam sowie einem Segelclub, der von Bediensteten der Staatssicherheit genutzt wurde. Bei der Recherche begegnet man solchen Orten und setzt sich mit ihnen auseinander. Das braucht Zeit. Auch die Begegnung mit Zeitzeug:innen und ihrem Erlebten. Die Mischung aus historischen Fakten, dem Aktenstudium, der Zusammenarbeit mit Historiker:innen und den Begegnungen mit Zeitzeug:innen machte für mich die Recherche aus, die zeitintensiv war. Es ist für mich sehr nachvollziehbar, dass eine Betroffene oder ein Betroffener sich nicht unbedingt von der ersten Minute an öffnet.

Mir ist es wichtig, dass sich ein Film wie Nahschuss wahrhaftig anfühlt. Damit meine ich, dass die Geschichte von Franz, einer Figur, die angelehnt ist an Werner Teske, sich psychologisch wie auch emotional wahrhaftig im Kontext dieses politischen Systems verhält. Natürlich ist es mir wichtig, so historisch authentisch wie nur möglich zu sein, was sich zum Beispiel im Szenenbild von Anke Osterloh widerspiegelt. Auf der anderen Seite benötigt es eine Teil-Fiktion, wenn man die psychischen Prozesse und die Entwicklung einer Figur schlüssig darstellen will.

Es ging mir nicht darum, über dieses System zu berichten, sondern durch den Menschen dieses zu erfahren. Daraus resultieren Fragen beispielsweise danach, wie man sich eine Bewusstwerdung für die Ursachen eigener Entscheidungen erschaffen kann, die durch Erziehung, Gesellschaft und ein politisches System geprägt sind. Und es zeigt die Ohnmacht, mit der ein Individuum der Willkür eines rigiden politischen Systems ausgeliefert sein kann.

Nahschuss changiert zwischen diesen beiden Aspekten, beispielsweise, wenn von Franz’ Haft erzählt wird und wie er täglich von der Staatssicherheit verhört wird, doch auf der anderen Seite auch Momente wie die Begegnung mit dem Wellensittich. Wie kam es zu diesen Momenten?

Bei der Arbeit war es mir wichtig – und ich bin meinem großartigen Team sehr dankbar, dass es sich darauf eingelassen hat –, sich auf eine gemeinsame Konzentration mit den Schauspieler:innen einzulassen, was gerade bei den Szenen während der Inhaftierung besonders intensiv war. Bedenkt man, welche Geschichte wir erzählen und was diese Orte ausmacht, an denen wir gedreht haben, war dies durchaus angemessen. Hier ergaben sich sehr berührende Momente, gerade weil ich so lange Zeit mit diesen Orten, diesen Figuren und ihren Geschichten verbracht habe – im Falle von Nahschuss reden wir von einem Prozess, der acht Jahre in Anspruch nahm.

Für das Fotografieren meiner Serie Coexist reise ich seit vielen Jahren durch verschiedene Länder, interessiere mich dabei auch für das jeweilige politische System, das tägliche Leben, die Stellung von Religion, Gesellschaft und Arbeit. Dadurch wuchs der Wunsch in mir, einen historischen Film zu erzählen, der aber gleichzeitig eine Relevanz für die heutige Zeit hat. Es geht um Fragen danach, wie autoritäre, totalitäre politische Systeme und Diktaturen Menschen manipulieren können und wie man sich als Mensch in einem rigiden politischen System verhält. Wichtig ist mir eine Übertragbarkeit von Teilen des Films auf politische Unrechtssysteme im Allgemeinen.

Für meine Arbeit als Fotografin ist es zudem wichtig, sich mit Räumen und Orten auseinanderzusetzen. Während der Arbeit an Nahschuss hielt ich mich viel in oder an diesen Orten auf, denn wenn man sich Zeit lässt, kommen diese – so geht es mir zumindest – auf einen zu, provozieren im konstruktiven Sinne und lassen mich neue Fragen stellen. Dieses Vorgehen dann beim Dreh mit dem Filmteam und den Schauspieler:innen fortzusetzen, war sehr erfüllend. Ein Beispiel war der Dreh in einem Barkas 1000b, einem Gefangenentransporter der Staatssicherheit. In diesem befinden sich winzige Zellen ohne Fenster, in die gerade einmal ein enger Sitz passt. Die Fahrten in diesem Wagens dienten oft auch der reinen Machtdemonstration und der Desorientierung. So wurden Gefangene stundenlang durch die Gegend gefahren, ohne dass sie wussten, wohin es geht oder wie lange die Fahrt dauern würde, nur, um sie schließlich wieder im Gefängnis in Berlin-Hohenschönhausen abzusetzen.

Die Szene mit dem Wellensittich, der Franz auf dem Balkon zufliegt, ist einer dieser gerade eben erwähnten fiktiven Elemente. Sie dient innerhalb der Geschichte dem Zweck, den inneren Prozess und die Entwicklung der Figur erfahrbar zu machen. Der Vogel ist eine Art Alter Ego für Franz, weil sich dieser, wie der Wellensittich, von seiner angedachten Umgebung abhebt und isoliert – dabei in einem Lebensumfeld ist, in dem er dauerhaft nicht überleben wird. Der Vogel ist auch eine Art Gesprächspartner für Franz, an den er sich wendet. Die Szene spielt auf dem Balkon von Franz‚ Wohnung, sein Rückzugsort, an dem er einmal nicht auf seine Worte achten muss und sich in gewisser Weise frei fühlen kann.

Wie wichtig sind Momente der Stille oder der Rhythmus des Atmens einer Figur für Nahschuss?

Sehr wichtig. Mich interessiert, wie wir uns außerhalb der reinen Wortebene ausdrücken. Gerade dann, wenn wir es nicht bewusst steuern. Atmung kontrollieren wir nicht. Als Mensch atmen wir unbewusst und es erzählen sich damit ungefiltert unsere inneren Zustände. Wir atmen mal flach und nervös oder uns stockt sprichwörtlich der Atem. Wenn Franz beispielsweise in dem Gefangenentransporter sitzt, bemerkt man anhand seiner Atmung seine starke Angst. Man kann sich, wenn man das so sagen kann, durch den Film mit ihm atmen, wobei dieser Aspekt manchmal bewusst und deutlich, dann aber wieder an anderer Stelle eher unterbewusst erfahrbar wird. Auch deshalb befindet sich die Kamera in Nahschuss auf Augenhöhe, nah bei den Charakteren. Es gibt keine starken Unter- oder Aufsichten. Wir gehen mit den Figuren durch den Film. Der Kameramann Nikolai von Graevenitz hat mit dem Gimbal, einer sanft bewegten Kamera gearbeitet. Das hat etwas Organisches. In Nahschuss kommen Aspekten wie dem Atmen, dem Rascheln von Kleidung oder auch dem Schlucken eine besondere Bedeutung zu. Weil der Film mit diesen Mitteln erzählt wird, gibt es auch keinen Filmmusikscore, bis auf ein für den Abspann von Karim Sebastian Elias komponiertes Stück. Mir war es wichtig, dass man den ganzen Film durch auf einer gefühlt dokumentarischen Tonebene mit den Figuren sein kann, wohingegen uns die Musik im Abspann zur Reflektion über Nahschuss zur Seite stehen kann.

Die drei Hauptfiguren, gespielt von Lars Eidinger, Luise Heyer und Devid Striesow, und deren Beziehung zueinander, ist sehr interessant und erinnert mich an die Beziehung von Faust, Mephisto und Gretchen in Goethes Faust. Von daher würde ich fragen, inwiefern Nahschuss nicht auch eine Geschichte von Verführung und Sündenfall ist?

Nahschuss ist nicht an Faust angelehnt, aber es gibt natürlich Parallelen, besonders wenn es um das Thema der Verführbarkeit des Menschen geht. Devid Striesow spielt mit Dirk zwar eine Mephistofigur, aber dieser Charakter hat noch eine andere Dimension.

Sie sind nicht nur als Filmregisseurin tätig, sondern auch in anderen Gebieten, beispielsweise als Fotografin. Inwiefern sind die Erfahrungen, die Sie als Regisseurin von Musikvideos oder als Fotokünstlerin machen, nicht nur persönlich, sondern auch künstlerisch für Sie bereichernd?

In den letzten zehn Jahren habe ich vor allem an Nahschuss und als Fotografin an meiner Serie Coexist gearbeitet, für die ich alle zwei Jahre auf einen anderen Kontinent gereist bin. In der Fotoserie konzentriere ich mich ausschließlich auf natürliche Spiegelungen auf Glas. In diesen überlagern sich das Innen und Außen und aus dieser Überlagerung ergibt sich ein neues, surreales Ganzes. Alles berührt sich letztlich. Daher habe ich das Projekt auch Coexist genannt, weil für mich dieser Gedanke weltumspannend ist. Dem Aufspüren von komplexen Spiegelungen bin ich verfallen, auch emotional. (lacht) Beim Fotografieren geht es um das Nonverbale, über das wir gerade schon gesprochen haben. Auch ohne Worte kommt man Menschen und Orten sehr nahe. Ich denke, dies spiegelt sich auch in Nahschuss wider. Nahschuss hat nur halb so viele Schnitte wie ein gängiger Spielfilm. Aber genau daraus bezieht er für mich seine Spannung. Das komplexe Schauspiel von Lars Eidinger, Luise Heyer und Devid Striesow stellt uns Fragen in den Raum. Wir nehmen uns im Leben und in der Kunst viel an Intensität, wenn wir uns nicht genug Zeit für das Betrachten geben.

Generell verfolge ich schon gerne viele Themen, das stimmt. Musik ist beispielsweise eine große Leidenschaft von mir, daher drehe ich für einige befreundete Bands und Künstler:innen hin und wieder Musikvideos. Doch auf meine Projekte wie Nahschuss und Coexist konzentriere ich mich über Jahre hinweg. Das verlangen diese Projekte von Innen heraus.

Vielen Dank für das nette Gespräch.

Ich danke auch!



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