Molecole Moleküle der Erinnerung – Venedig, wie es niemand kennt
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Moleküle der Erinnerung – Venedig, wie es niemand kennt

Inhalt / Kritik

Molekuele der Erinnerung
„Moleküle der Erinnerung – Venedig, wie es niemand kennt“ // Deutschland-Start: 30. Dezember 2021 (Kino) // 6. Mai 2022 (DVD)

In einem Moment des Stillstandes ist der Mensch in der Lage, sein Leben mit einer gewissen Distanz zu betrachten und zu einer seltenen Klarheit zu kommen. Jene Momente sind wertvoll, können aber auch eine Wahrheit enthalten, die wir uns selbst nicht zugeben wollen und die wir lange Zeit unterdrückt haben. In einem seiner Hauptwerke, dem großartigen Der Fremde, erzählt der Autor Albert Camus von eben jenen Augenblicken, in denen man das Leben und die Welt um sich einfängt, doch zugleich einem etwas bewusst wird, was zu einer Erkenntnis wird, welche die Beziehung zum Selbst für immer verändern wird. Für Meursault, den Protagonisten des Romans, ist eine persönliche Krise das Ergebnis sowie eine ungeheure Tat, deren Schrecken nur noch dadurch übertrumpft wird, dass er sie mit einer Distanz betrachtet. Im Raum steht für ihn, wie auch für Camus’ andere Helden, inwiefern man selbst überhaupt verantwortlich für eben jene Taten ist und man nicht selbst einem Pfad folgt, der einem in die Wiege gelegt wurde. Der Fremde gilt als einer der Hauptwerke des Autors und hat viele Kunstschaffende maßgeblich beeinflusst, unter ihnen auch Filmemacher Andrea Segre, der die Liebe zu diesem Roman von seinem Vater geerbt hat, dem er sich unter anderem in seiner Dokumentation Moleküle der Erinnerung – Venedig, wie es niemand kennt hatte annähern wollen.

Eigentlich war ein Foto des noch jungen Andrea auf den Armen seines Vaters der Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit seiner Familiengeschichte gewesen, doch im Laufe der Dreharbeiten veränderte sich der Fokus Segres. Noch während er bei den Dreharbeiten war, Einwohner Venedigs, der Heimat seines Vaters und der Großeltern, interviewte und versuchte jenes Venedig zu entdecken, was sein Vater wohl gesehen haben mag, überschattete die Corona-Pandemie den Dreh. Auf einmal standen Menschen für Interviews nicht mehr zur Verfügung, weil aufgrund des Lockdowns das öffentliche Leben heruntergefahren wurde, und schließlich blieben auch die ansonsten allseits präsenten Touristen aus, die wie ein konstanter Strom die berühmte Lagunenstadt durchqueren. Jedoch blieb Segre nicht weg, er filmte alleine weiter und verfolgte sein Projekt, welches sich durch die Leere der Stadt auf einmal zu etwas Neuem entwickelt hatte, was vielleicht jenem Moment des Stillstandes und der Klarheit, wie ihn Camus’ Protagonist empfunden haben mag, sehr viel näher kommt.

Unsere zerbrechliche Materie

Namensgebend für Segres Dokumentation ist die Beschäftigung des Vaters mit der Physik, genauer gesagt mit den Eigenschaften von Molekülen und freien Radikalen. Der Filmemacher erhebt des zu einer Art Metapher, die den ganzen Film durchstreift und nicht nur für die brüchige Substanz der Langunenstadt steht, sondern letztlich auch als eine Anspielung auf das Virus an sich gesehen werden kann, welches das Leben in Italien und dem Rest der Welt zum Erliegen gebracht hat. Es ist das Unsichtbare und Unkontrollierbare, was Segre versucht einzufangen und zu erklären, zumindest für sich, doch was sich einem immer wieder entzieht, auch den Menschen, denen der Filmemacher begegnet, die von ihrer Arbeit, ihrem Leben und dem Hochwasser vom November 2019 erzählen, welches die Korrosion des Fundaments und ihrer Existenz in Venedig noch einmal nachhaltig auf den Punkt brachte. So haben die Bilder von Moleküle der Erinnerung immer etwas Unergründliches, etwas Distanziertes, was sich über die ansonsten immer etwas touristische Perspektive erhebt. Selbst die Gondeln und die Postkartenverkäufer scheinen in diesem Bann zu stehen, wie Überbleibsel einer anderen Zeit oder Segmente einer Zeit des Überganges, nach der nichts mehr so sein wird, wie es einmal war.

Vielleicht ist es konsequent, dass ein Film wie Moleküle der Erinnerung am Jahresende 2021 in die Kinos kommen wird. Andrea Segres schöne Dokumentation fängt jenen Moment des Innehaltens ein und ermutigt zum Nachdenken über das, was einen als Mensch ausmacht, nämlich jene brüchige Substanz wie auch jenes Unsichtbare, über das man nur sehr wenig weiß und was uns dennoch allzeit umgibt.

Credits

OT: „Molecole“
Land: Italien
Jahr: 2020
Regie: Andrea Segre
Drehbuch: Andrea Segre
Musik: Teho Teardo
Kamera: Matteo Calore, Andrea Segre

Bilder

Trailer

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Moleküle der Erinnerung – Venedig, wie es niemand kennt
Fazit
„Moleküle der Erinnerung – Venedig, wie es niemand kennt“ ist eine Dokumentation über den Stillstand, das Nachdenken und was uns Menschen ausmacht. Andrea Segre gelingt ein schöner, kontemplativer Film, der sich durch seine tollen, ungewohnten Bilder der Lagunenstadt sowie das Einfangen einer besonderen Zeit auszeichnet.
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