Mitra
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Mitra

Inhalt / Kritik

Mitra
„Mitra“ // Deutschland-Start: 18. November 2021 (Kino)

Im Jahr 1982 klingelt in einer Teheraner Wohnung ein rotes Telefon. Haleh (Jasmin Tabatabai) ist auf das Schlimmste gefasst, als sie den Hörer abnimmt. Doch was sie hört, übersteigt jegliches Fassungsvermögen: „Ihre Tochter wurde hingerichtet“, sagt der Anrufer mit bürokratischer Teilnahmslosigkeit. „Sie können ihre Sachen im Gefängnis abholen“. 37 Jahre später: Haleh ist Professorin und Expertin für iranische Politik in den Niederlanden. Nach einem Vortrag erfährt sie, dass eine gewisse Sare (Shabnam Tolouei) vor kurzem ins Land eingereist ist und ganz in ihrer Nähe wohnt. Sie könnte die Verräterin sein, die Halehs Tochter Mitra (Dina Zarif) damals ans Messer geliefert hat. Urplötzlich bricht eine nie verheilte, aber lange verkrustete Wunde wieder auf. Mit Hilfe einer Gruppe von Exil-Widerstandkämpfern, die sich „Die Organisation“ nennen, könnte sich Haleh an der Denunziantin rächen. Aber soll sie das tun? In ihrer emotionalen Erschütterung bittet sie ihren Bruder Mohsen (Mohsen Namjoo) um Hilfe, auch er ein Opfer der Diktatur.

Beobachtende Distanz

Eine der ergreifendsten Rückblenden zeigt einen Gefängnisbesuch. Halehs Gesicht hellt sich für einen Moment auf, als die Tür aufgeht. Doch als sie ihre Tochter sieht, macht sich Entsetzen in ihren Augen breit. Mitra muss von zwei Wärterinnen gestützt werden, ihr Gesicht ist grün und blau. Die Mutter versucht, stark zu bleiben, doch bei den ersten Worten ihrer Tochter laufen ihr die Tränen übers Gesicht. Das stille Leid zählt zu den emotionalsten Momenten des Films, der sich ansonsten um eine beobachtende Distanz bemüht. Nicht aufwühlen, sondern zeigen, was war, ist das Leitmotiv der filmischen Mittel: entsättigte Farben, eine ruhige, dokumentarische Kamera und das zurückhaltende Spiel einer Schauspielerin, die sonst oft extrovertierte und taffe Frauen verkörpert.

Der Verzicht auf expressive Emotionalität hat einen inhaltlichen Sinn: Regisseur und Drehbuchautor Kaweh Modiri legt das politisch engagierte Familiendrama als eine Art moralisches Dilemma an. Muss man einen solchen Verrat verzeihen? Darf man nicht zurückschlagen, wenn die Chance dazu quasi auf einem Silbertablett serviert wird? Der Film hält die Antwort bis kurz vor Schluss offen. Er gibt die Frage ans Publikum zurück: Wie würdest du handeln, wenn es deine Tochter wäre?

Dabei hätte der im Iran geborene und heute in den Niederlanden lebende Regisseur allen Grund, zornig zu sein. Seine Schwester Mitra wurde 1981 im Iran als Widerstandskämpferin gegen das sich festigende Regime der Mullahs hingerichtet. Das warf einen langen Schatten auf sein Leben, denn seine Mutter war mit ihm schwanger, als das geschah. Er wurde also in eine Phase tiefster Trauer hineingeboren. Der auf Tatsachen beruhende, im Ganzen aber fiktive Film ist für Kaweh Modiri ein Herzensprojekt, eine Hommage an die mutige Schwester, die er nie kennenlernen durfte, und zugleich die Erforschung des Weges, wie sich ein solches Schicksal bewältigen lässt. Im Abspann widmet der Filmemacher das Drama einer differenzierten Gewissenerforschung seiner Mutter.

Ein Herzensprojekt

Auch für die im Iran geborene Hauptdarstellerin Jasmin Tabatabai ist die Auseinandersetzung mit der iranischen Diktatur eine Herzensangelegenheit. Deshalb war sie nicht nur bereit, in der niederländischen Originalfassung sämtliche Dialoge auf Persisch zu sprechen. Sie ließ sich auch auf das Abenteuer ein, im Film quasi 37 Jahre zu altern sowohl die 35-jährige wie die 75-jährige Haleh zu verkörpern. Möglich wurde dies mit prothetischen Masken, bei denen der Maskenbildner einen Abdruck von Gesichtspartien nimmt und daraus mit Silikon die gewünschte Veränderung modelliert. Die vom realen Alter her in der Mitte stehende Jasmin Tabatabai wurde so auf jünger und auf älter geschminkt. Über das Ergebnis lässt sich streiten, aber es verstärkt einen gewissen Distanzierungs- und Verfremdungseffekt.

Dank eines klugen Wechsels zwischen Rückblenden und dem detektivischen Herantasten an die mögliche Verräterin entsteht eine stellenweise krimi-ähnliche Spannung, ohne dass die Suche nach dem moralisch tragfähigen und individuellen lebenswerten Weg aufgegeben würde. Sie läuft im Hintergrund immer mit. Das macht Mitra trotz eines stellenweise lehrstückhaften Duktus zu einem komplexen Film über die Fallstricke von Rachegelüsten. Dabei unterläuft er die Muster gängiger Thriller und öffnet sich über den Nervenkitzel hinaus einer Nachdenklichkeit, die sämtlichen Konfliktherden dieser Erde gut täte. Und auch manch privater Fehde.

Credits

OT: „Mitra“
Land: Deutschland, Niederlande, Dänemark
Jahr: 2021
Regie: Kaweh Modiri
Drehbuch: Kaweh Modiri
Musik: Mohsen Namjoo
Kamera: Daan Nieuwenhuijs
Besetzung: Jasmin Tabatabai, Mohsen Namjoo, Shabnam Tolouei, Avin Manshadi

Bilder

Trailer

Interview

Wie präsent ist Jahre später noch das Geburtsland Iran? Und wie war es für sie in dem Film mitzuspielen? Diese und weitere Fragen haben wir Hauptdarstellerin Jasmin Tabatabei in unserem Interview zu Mitra gestellt.

Jasmin Tabatabai [Interview]

Filmfeste

International Film Festival Rotterdam 2021
Filmfest Braunschweig 2021

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© NDR/Polyphon Film- und Fernsehgesellschaft/Alexander Fischerkoesen

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„Mitra“ erzählt mit großer Genauigkeit von einer Mutter, deren Tochter vor 37 Jahren hingerichtet wurde und die nun die Chance auf Rache erhält. Seine manchmal zu distanzierte Erzählhaltung gleicht der Film mit inhaltlicher Komplexität aus.
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