Marvin
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Marvin

„Marvin ou la belle éducation“, Frankreich, 2017
RegieAnne Fontaine; DrehbuchAnne Fontaine, Pierre Trividic
Darsteller: Jules Porier, Catherine Mouchet, Finnegan Oldfield, Charles Berling, Grégory Gadebois, Catherine Salée

Marvin
„Marvin“ läuft ab 5. Juli 2018 im Kino

Nein, glücklich ist das Leben des jungen Marvin Bijou (Jules Porier) nun wirklich nicht. Immer wieder wird er gehänselt, als Schwuler beschimpft, auch körperlich angegriffen, wird in der Schule zur Zielscheibe. Zuhause sieht nicht wirklich besser aus. Seine Eltern (Grégory Gadebois, Catherine Salée) finden keinen rechten Zugang zu dem sensiblen Jungen, sein Bruder feindet ihn sogar offen an. Nur in der Theaterklasse, in die ihn seine Schulleiterin Madeleine Clément (Catherine Mouchet) steckt, findet er einen Weg, aus sich herauszukommen und die Erfahrungen zu verarbeiten. Doch erst als Marvin als mittlerweile junger Erwachsener (Finnegan Oldfield) nach Paris fährt, lernt er mit sich im Reinen zu sein und seine Geschichte künstlerisch umzusetzen.

Und da soll noch einer behaupten, das Kino könne einem keine neuen Erkenntnisse mehr bereiten. Denn zumindest eine hält Marvin für das Publikum parat: Rassismus kann irgendwie rührend sein, im richtigen Kontext. Schuld an dieser Erkenntnis ist Marvins Vater Dany, gespielt von Grégory Gadebois (Happy Metal – All We Need Is Love!). Ein grober Klotz aus der Arbeiterklasse, der das lebt, was man ihm beigebracht hat. Soll heißen: Malochen, dazwischen gibt es Pommes und Bier. So war es, so wird es sein, mehr braucht das Leben nicht. Dass ein solcher Mann sich schwer tut mit einem Sohn, der anders ist, der die schönen Künste liebt, der Männer liebt, der sanft ist, das überrascht nicht. Wenn er diesem zum Abschied rät, vor den Nichtfranzosen davonzulaufen, sich nicht zu wehren, dann um ihn auf seine umständliche und moralisch fragwürdige Weise zu zeigen, dass er ihn eben doch liebt.

Die schwierige Suche nach dem Ich
Marvin handelt dann auch ausgiebig davon, wie sehr wir von unserem Umfeld geprägt sind, wie schwer es ist, sich davon zu lösen. Wie schwer es sein kann, sich in einer Welt wiederzufinden, die so fremd ist. Eine Welt, die alles ablehnt, was ihr fremd ist. Das tun natürlich viele Filme aus dem LGBT-Bereich. Das gefürchtete Coming-out, die Festlegung auf eine andere sexuelle Identität, das ist eines der wichtigsten und am meisten verfilmen Themenbereiche in diesem Segment. Jemand sein zu dürfen, der nicht ist wie die anderen, eine Stimme zu entwickeln, die dir und nur dir gehört, das hört sich so einfach an, ist es aber oft nicht.

Anders als es etwa beim Hollywood-Kollegen Love, Simon der Fall ist, wo der Protagonist eher mit Samthandschuhen angefasst wird, erfährt Marvin die gesamte Bandbreite von Ausgrenzung über Beschimpfung bis hin zu Gewalt. Und das zu einem Zeitpunkt, in dem er noch nicht einmal genau weiß, was er ist. Was Homosexualität überhaupt bedeutet. Regisseurin und Co-Autorin Anne Fontaine (Ein Sommer mit Flaubert) verzichtet aber darauf, aus diesem Unglück groß Kapital schlagen zu wollen. Mit einer erschütternden Unterwürfigkeit nimmt Marvin dieses Schicksal an, wehrt sich nicht, leidet aber auch nicht vor der Kamera darunter.

Erstaunlich distanzierte Gefühlswelt
Das Drama, welches bei den Filmfestspielen von Venedig 2017 Premiere feierte und dort auch ausgezeichnet wurde, hält sich allgemein mit Gefühlen auffallend zurück. Hier mal ein Wutausbruch, dort erlösende Tränen. Dazwischen zeigt sich Marvin aber vor allem beobachtend. Zeigt den Jungen, wie er das Leben da draußen in sich aufsaugt und abspeichert. Zeigt den Mann, wie er nach und nach seinen Frieden mit allem findet, mit seiner Familie, seiner Herkunft, seiner Homosexualität. „Ich bin wie Sie“, stammelt er zu Beginn in Paris, während er nach Halt sucht, diesen in einem älteren Mann und seiner eigenen Geschichte findet.

Ganz frei ist er also nicht. Anders als die meisten Filme aus diesem Bereich macht Marvin seinen Frieden nicht dadurch, dass er das Alte hinter sich lässt. Er akzeptiert es als einen Teil von sich, so wie er eben auch die Kunst und seine sexuelle Orientierung als Teil von sich entdeckt und akzeptiert. Das dreckige, altmodische Milieu, dem Marvin entkommt, nicht völlig zu verdammen, gehört zu den großen Stärken des Dramas: Fontaine genügt es nicht, vom sexuellen Erwachen zu erzählen, sondern verbindet dies mit der Frage, ob wir unseren Wurzeln entkommen können oder sollen. Während sie hier differenziert vorgeht und Grenzen aufzeigt, bleibt sie bei dem Abbild der Künstler- und Homosexuellengemeinschaft in Paris zu  einseitig und schwammig, hat kein Interesse, auch dort genauer hinzuschauen, über die üblichen Klischees hinauszugehen. Aber trotz dieses Mankos, Marvin ist einer der spannenderen Filme des jüngeren LGBT-Kinos und zeigt, dass selbst innerhalb bekannter Geschichten Neues erzählt werden kann.



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Ein junger Schwuler muss sich aus seinem einfachen bis brutalen Arbeiterumfeld lösen und findet in der Theaterszene von Paris sich selbst, das klingt nicht nach etwas Besonderem. Was „Marvin“ auszeichnet ist dabei der Blick auf das Milieu sowie die Frage, wie sehr wir von diesem geprägt werden und ob wir uns davon lösen können oder auch sollen. Das ist erstaunlich differenziert und auf eine Weise versöhnlich, wie man es in dem Bereich nur selten sieht.
7
von 10