Holy Motors

Holy Motors

(„Holy Motors“ directed by Leos Carax, 2012)

Holy MotorsDreieinhalb Minuten, mehr Zeit braucht Holy Motors nicht, um den Zuschauer kräftig zu verwirren. Ein Mann (Denis Lavant) wacht in seinem Bett auf, nachdem er von einem Kino geträumt hat, und tastet sich durch die Wohnung. Er bleibt vor einer Tapete voller Bäume stehen und öffnet mit einer metallischen Verlängerung seines Mittelfingers eine geheime Tür. Dahinter befindet sich ein weiteres Kino, vielleicht auch ein Theater, wir wissen es nicht so genau. Ein Kind tappst in der Ferne durch die Gänge, später folgt ihm ein großer Hund.

Ein Traum? Schon möglich. Kurze Zeit darauf sieht tatsächlich alles wieder normal aus, der Mann verabschiedet sich von seiner Familie und steigt in eine große, weiße Limousine. Seine Chauffeurin Céline (Edith Scob) begrüßt ihn als Monsieur Oscar und erklärt ihm, er habe heute neun Termine. Also ein Geschäftsmann! Oder vielleicht auch nicht. In der nächsten Szene sehen wir ihn verkleidet als alte Bettlerin. Nach diesem Prinzip läuft auch der Rest des Films ab. Einen Tag lang begleiten wir den Mann auf seiner Fahrt durch Paris, sehen, wie er in immer neue Rollen schlüpft und dabei die eigenartigsten Szenen durchlebt. Ein bloßes Hobby sind diese Scharaden jedoch nicht, denn Oscar wird für diese Arbeit bezahlt. Ein bisschen erinnert er an die Mitglieder der Alpen. Während deren Tätigkeit – das Verkörpern verstorbener Personen – zwar ebenfalls reichlich seltsam ist, die Absicht leuchtete dort jedem ein. Doch wozu Oscar einen Leprechaun spielt? Einen Killer? Keine Ahnung.Holy Motors Szene 1

Er scheint auch nicht der einzige zu sein, der dieser Arbeit nachgeht. Im Laufe des Film begegnet er „Kollegen“, darunter auch Jean (Kylie Minogue). „Who were we when we were who we were back then?“ singt sie unter Tränen, während die beiden durch ein verfallenes Einkaufszentrum spazieren. Vielleicht liegt darin der Schlüssel zu dem surrealen französischen Film verborgen, die Frage danach, wer wir eigentlich sind. Wir alle schlüpfen tagtäglich in Rollen, je nach Gegenüber, je nach Kontext – oft ohne es zu merken. An einer anderen Stelle beklagt Oscar, dass die Kameras heute so klein sind, dass man sie nicht einmal mehr sieht. Unser Leben als fortwährende Bühne?

Möglich ist aber auch, dass Regisseur Leos Carax einen Film über das Kino an sich drehen wollte, die Macht des Bildes. „Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte“, heißt es ja. Für einige seiner Szenen wäre selbst diese Anzahl zu gering. Nicht weil es zu wenige Wörter wären, sondern die falschen. Weil Carax uns in Welten entführt, an denen Sprache keinen Platz mehr hat. Und eine Handlung auch nicht. Als eine Mischung aus Drama und Fantasy wird Holy Motors am häufigsten beschrieben. Man hätte aber auch genauso gut Thriller, Musical oder Komödie dazu sagen können, denn der Film ist gleichzeitig alles und nichts davon. Genauso wenig wie feste Genregrenzen darf man als Zuschauer hier explizite Erklärungen erwarten. Aussagen, Andeutungen – ja, die gibt es. Beispielsweise ist „Oscar“ der zweite Vorname von Carax, der mit bürgerlichem Namen Alexandre Oscar Dupont heißt. Auch Anspielungen auf andere Filme tauchen auf. Aber was man daraus macht, ob dies überhaupt etwas zu bedeuten hat, ist dem einzelnen selbst überlassen.Holy Motors Szene 2

13 Jahre sind seit Carax’ letztem Film vergangen, Holy Motors sollte eine Art Comebackversuch sein. Ein großes Publikum wird er damit sicher nicht erreichen, dafür ist sein neuestes Werk zu unzugänglich und bewusst rätselhaft, für das Massenpublikum vermutlich auch zu nichtssagend. Eines lässt sich aber definitiv sagen: Wer den knapp zwei Stunden langen Bilderrausch hinter sich hat, wird den Film so bald nicht wieder vergessen. Und das muss man als Regisseur erst einmal schaffen.

Holy Motors ist seit 12. April auf DVD erhältlich



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Holy Motors ist eine faszinierende, oft surreale Mischung der verschiedensten Genres. Wer Filme vor allem um ihrer Geschichten willen anschaut, wird an dem assoziativen, episodenhaften Bildertrip verzweifeln. Wer hingegen Spaß am Interpretieren hat oder sich generell am Experimentellen erfreuen kann, findet hier einen der seltenen Filme, der sich so konsequent über alle Grenzen hinwegsetzt, dass jeder Vergleich witzlos ist – und genau damit im Gedächtnis bleibt.
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von 10