Seit über 40 Jahren ist Jimmy Erskine (Ian McKellen) Theaterkritiker für eine prestigeträchtige Londoner Zeitung. Trotz seiner jahrelangen Erfahrung zieht er mit seinen schonungslosen Artikeln und seiner unverblümten Schreibweise immer wieder Kritik auf sich. Die Abneigung gegenüber seiner Person ignoriert Erskine jedoch und fühlt sich aufgrund seines Status in der Branche unantastbar. Als der Patriarch der Zeitung, Brooke Sr., eines Tages stirbt und sein Erbe David Brooke (Mark Strong) alles daransetzt, das Blatt radikal zu modernisieren, steht der berühmte Kritiker ganz oben auf der Abschussliste. Um seinen Beruf, seinen Status und vor allem sein Ansehen zu retten, sieht sich Jimmy Erskine zunehmend gezwungen, radikale Maßnahmen zu ergreifen.
Selbstzweifel zu Skrupellosigkeit
Besonders in der ersten Hälfte wirft Anand Tucker mit The Critic einige interessante Fragen auf. In einer sich immer schneller modernisierenden Welt schwelgt Ian McKellens Charakter in der Vergangenheit. Trotz jahrzehntelanger Erfahrung verschließt er sich neuen Ansätzen und neuen Gesichtern in der Theaterkunst. Als er von der jungen Schauspielerin Nina Land (Gemma Arterton) zur Rede gestellt wird und nach einem Gespräch mit seinem Protegé beginnt, sich trotz allem selbst zu hinterfragen, scheint er seine eigene Kritik zu reflektieren. Dieser selbstkritische Ansatz eines Mannes, der das Gefühl hat, von der Modernisierung eingeholt zu werden, ist durchaus interessant. Leider wird diese Prämisse jedoch zu schnell verworfen. The Critic wandelt sich von einem Film, der Fragen zu Konservatismus, Meinungsfreiheit, Entwicklung und Selbstreflexion aufwirft, zu einem wenig glaubwürdigen Thriller.
Um seinen Job zu retten, greift Erskine zunächst auf moralisch fragwürdige Mittel zurück, die schließlich, Vorsicht Spoiler!, in Erpressung und sogar Mord münden. Selbstreflexion oder gar ein moralisches Dilemma spielen dabei kaum noch eine Rolle. Was unter anderen Umständen eine überzeugende dramaturgische Entwicklung hätte sein können, wirkt hier unglaubwürdig. Dass ein Mann von Erskines Stand und in seinem hohen Alter seine Reputation und sein Vermögen aufs Spiel setzt, nur um einige weitere Jahre als Theaterkritiker tätig zu sein, ist nicht unmöglich, aber zumindest fragwürdig. Darüber hinaus zeigt The Critic anfangs, dass Erskine trotz seiner Prinzipien und einer gefestigten Meinung durchaus zur Selbstreflexion und Mäßigung fähig ist, was seine plötzliche Radikalisierung umso unglaubwürdiger erscheinen lässt.
Dramaturgie zu Lasten des Ensembles
Charakterlich lässt sich Ian McKellens Jimmy Erskine nur deshalb so genau einordnen, weil er die einzige Figur ist, die Romanautor Anthony Quinn ausführlich erzählt. Der stoische Kritiker, von sich selbst völlig eingenommen und nach außen hin ein Gentleman, ist stets darum bemüht, seine Ausfälle vor der breiten Öffentlichkeit zu verbergen. Ebenfalls verheimlichen muss er seine sexuellen Vorlieben, da Homosexualität im London der 1930er-Jahre verpönt und ihr Ausleben sogar gefährlich ist. Ian McKellen glänzt in jeder Facette seines Charakters. Abgesehen von Erskine bleiben jedoch alle anderen Figuren lediglich oberflächlich skizziert. Charakterentwicklung der Nebenfiguren findet nur beiläufig statt. Während The Critic zu Beginn noch einen gemäßigten Einstieg wählt, verliert sich der Film in der zweiten Hälfte in einer überstürzten Handlungsentwicklung und einer schnellen Abfolge von Twists. Anand Tuckers Entscheidung, Dramaturgie über durchdachte Charakterzeichnung zu priorisieren, sorgt letztlich dafür, dass das durchaus vorhandene schauspielerische Talent der Nebendarsteller zu wenig zur Geltung kommt.
OT: „The Critic“
Jahr: 2023
Land: UK
Regie: Anand Tucher
Drehbuch: Patrick Marber
Vorlage: Anthony Quinn
Musik: Craig Armstrong
Kamera: David Higgs
Besetzung: Ian McKellen, Alfred Enoch, Matthew Cottle, Ed Madden, Ben Barnes, Mark Strong, Romola Garai, Beau Gadsdon
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