Anatomie eines Falls Anatomie d'une chute Anatomy of a Fall
Szenenbild aus Justine Triets "Anatomie eines Falls" (© LesFilmsPelleas/LesFilmsDePierre)

Justine Triet [Interview]

Das in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnete Drama Anatomie eines Falls erzählt die Geschichte eines deutsch-französischen Paars, das zurückgezogen mit dem Sohn in einem Chalet in den französischen Alpen lebt. Doch von Idylle keine Spur, immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen Sandra (Sandra Hüller) und Samuel (Samuel Theis). Eines Tages findet der Sohn die Leiche seines Vaters, der offensichtlich vom oberen Stockwerk in den Tod gestürzt ist. War es ein Unfall? Die Polizei zweifelt daran und verdächtigt Sandra, ihren Mann ermordet zu haben. Wir haben uns zum Kinostart am 2. November 2023 mit Regisseurin und Autorin Justine Triet über ihren neuen Film unterhalten.

Könntest du uns etwas über die Entwicklung von Anatomie eines Falls verraten? Wie bist du auf die Idee dafür gekommen?

Die Idee fing mit dem Jungen an, der all diese verrückten Sachen über seine Eltern erfährt. Es ging mir darum zu zeigen, dass wir nie genau wissen, wer eigentlich unsere Eltern sind. Später kam das mit dem Gerichtsdrama hinzu und ich entschied mich, dieses zu nehmen, um dieses Thema zu bearbeiten.

Du hättest die Geschichte eines dysfunktionalen Paars aber auch in Form eines regulären Dramas machen können. Warum hast du dich für den Gerichtsaspekt entschieden?

Es geht nicht allein um die Familie, sondern auch, wie andere über sie urteilen und Geschichten erzählen. Sandra ist da im Gerichtssaal und muss sich alles Mögliche anhören, wenn andere über sie bestimmen. Auf eine gewisse Weise hat man sie entmündigt und aus ihrem eigenen Narrativ ausgeschlossen. Anatomie eines Falls ist deshalb auch die Geschichte einer Frau, die um ihr Narrativ kämpft. Den ganzen Film über streitet sie mit anderen darum und auch darüber, was denn nun die Wahrheit ist. Das Publikum soll sich in ihre Lage hineinversetzen können, wie sie versucht, die Kontrolle zurückzugewinnen. Die Sprache ist dabei auch wichtig, weil wir in der Verhandlung ständig zwischen Französisch und Englisch wechseln und schon der Wechsel der Sprache das Narrativ verändern kann.

Warum hast du überhaupt diese Geschichte so international aufgezogen? Wir haben eine deutsche Frau und einen französischen Mann, die in England gelebt haben, bevor sie nach Frankreich gezogen sind. Warum nicht einfach gleich ein französisches Paar daraus machen?

Ich wurde dabei von einem realen Fall inspiriert, bei dem eine Engländerin in Frankreich des Mordes beschuldigt wurde. Außerdem gab es natürlich noch den Mordprozess um Amanda Knox. Ich finde es aber auch interessant, wie durch die Sprachen noch eine weitere Schicht hinzukommt und die Geschichte komplexer wird. Jeder präsentiert eine eigene Form der Wahrheit, die stimmen könnte, transportiert durch eine eigene Sprache.

Erschaffen verschiedene Sprachen denn verschiedene Wahrheiten?

Das würde ich schon sagen, ja. Ich hatte in einer früheren Fassung vom Drehbuch auch eine längere Passage, die in Deutschland spielt und bei der es auch darum ging, wie dort über den Fall berichtet wird. Und dabei wären wieder andere Wahrheiten entstanden als die, die wir im Film sehen.

Du hast von mehreren Wahrheiten gesprochen. Aber was bedeutet Wahrheit überhaupt? Wie würdest du sie definieren?

Das ist natürlich ein riesiges Thema. Als ich jünger war, bin ich selbst oft zu Gerichtsverhandlungen gegangen in der Annahme, dass dort die Wahrheit aufgedeckt wird. Doch je älter ich werde, umso mehr bin ich davon überzeugt, dass es im Gegenteil ein Ort ist, an dem eine Geschichte konstruiert wird. Gerade weil die Wahrheit schwer zu greifen ist, werden oft andere Faktoren hinzugezogen, um so das Narrativ zu bilden. Da spielen dann auch gesellschaftliche Urteile mit rein oder Erwartungen. Sandra erfüllt nicht die Erwartungen, die man an ein Opfer hat. Dafür ist sie zu stark. Sie weint nicht die ganze Zeit. Und so werden diese ganzen Faktoren genommen und irgendwie zusammengeführt. Es geht darum, eine gute Geschichte zu erzählen und damit andere zu überzeugen. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich irgendwo in der Mitte zwischen all diesen Geschichten.

Wenn aber ein Gerichtssaal kein Ort der Wahrheit ist, sondern der von Geschichten, kann es dann überhaupt Gerechtigkeit geben?

Das schon. Es sind ja nicht alle Fälle so kompliziert wie der, von dem wir erzählen. Da gibt es genug, die ganz klar sind und wo die Wahrheit feststeht. Interessant ist auch, wie diese ganzen neuen Techniken die Rechtsprechung verändert haben. Auf der einen Seite sind sie sehr gut, weil du materielle Beweise hast. Wenn du beispielsweise ein Video von einem brutalen Polizeieinsatz hast, dann kannst du das nicht mehr leugnen. Auf der anderen Seite können solche Aufnahmen trügerisch sein und manipulieren.

In den letzten Jahren hatte man zuweilen das Gefühl, dass es grundsätzlich keine richtige Wahrheit mehr gibt, sondern nur verschiedene Interpretationen. Wie gehst du damit um?

Das stimmt, ich kann heute kaum noch Nachrichten anschaue, weil du nie sicher sein kannst, was davon jetzt stimmt. Du hast bei den großen Medien kein wirkliches Gegengewicht mehr. Zumindest hier in Frankreich bin ich konstant misstrauisch. Wenn ich mich informieren will, greife ich deshalb lieber zu Podcasts oder das Internet. Wobei die sozialen Medien auch schwierig sind. Da liest du die verrücktesten Sachen von Leuten, die ganz einfache Wahrheiten verkaufen wollen. Dabei ist das oft einfach komplizierter und komplexer.

Als Filmemacherin erschaffst du selbst Wahrheiten und Realitäten. Geht das für dich mit einer besonderen Verantwortung einher?

Ich war bei meinen Filmen schon immer davon besessen, wie ich möglichst exakt die Wahrheit abbilden kann. Es geht bei meinen Filmen aber nicht darum, den Menschen eine Wahrheit vorzugeben und zu sagen: So ist es und nicht anders. Ich behaupte gar nicht, dass ich die Wahrheit selbst kenne. Es stimmt, oft ist es bei Filmen so, dass du am Ende der Geschichte eine Gewissheit für dich mitnimmst, weil sie auf etwas Bestimmtes hinauswollen. Bei mir ist es eher das Gegenteil. Du verstehst am Anfang nichts, du hast lauter Geräusche, aus denen du nichts heraushören kannst. Mit der Zeit lernst du zwar, die Feinheiten in diesem Lärm zu hören. Du entdeckst mehr Schichten. Daraus entsteht aber keine Gewissheit außer der, dass alles komplizierter ist. Und ich sehe schon auch die Verantwortung beim Filmemachen darin, die Komplexität des Lebens aufzuzeigen.

In Anatomie eines Falls, aber auch schon in Sibyl – Therapie zwecklos erzählst du von Menschen, die ihr eigenes Leben oder das der anderen nehmen, um daraus Bücher zu machen, was zum Teil zu heftigen Auseinandersetzungen führt. Ist es denn möglich, Kunst zu schaffen, die nicht auf die eine oder andere Weise von der Realität inspiriert ist?

Ganz losgelöst von der Realität wohl nicht, irgendwo bist du immer inspiriert von dem, was im wahren Leben geschieht. Das kann nur sehr unterschiedliche Formen annehmen. Bei mir ist es nicht so wie bei meinen Figuren, dass ich Ereignisse übernehme und daraus meine Geschichten mache. Das habe ich nie gemacht. Es interessiert mich nicht, mein Leben zu erzählen. Ich projiziere aber meine eigenen Ängste und Sehnsüchte und betreibe durch meine Filme eine Art Exorzismus, um mich mit den Themen zu befassen, die mich selbst beschäftigen.

Kommen wir noch auf das Casting zu sprechen: Wonach hattest du bei der Besetzung von Sandra gesucht?

Tatsächlich gab es für Sandra kein Casting, weil ich von Anfang an Sandra Hüller vor Augen hatte. Ich wollte jemanden haben, die sehr klar und transparent spielen kann. Die Figur sollte nicht die typische mysteriöse Frau sein, wie man sie immer wieder in Filmen findet. Und doch sollte das Publikum erst nach und nach mehr erkennen. Ich konnte mir dafür niemand Besseres als Sandra Hüller vorstellen.

Vielen Dank für das Gespräch!

© Yann Rabanier
Zur Person
Justine Triet wurde am 17. Juli 1978 in Fécamp geboren. Sie studierte an der École nationale supérieure des beaux-arts de Paris, wo sie 2003 ihren Abschluss machte. Nach mehreren dokumentarischen und fiktionalen Kurzfilmen gab sie 2013 mit Der Präsident und meine Kinder ihr Langfilmdebüt. Ihr zweiter Spielfilm Victoria – Männer & andere Missgeschicke (2016) war für mehrere Césars nominiert, darunter den besten Film. 2023 erhielt sie für ihren vierten Film Anatomie eines Falls als erst vierte Regisseurin die Goldene Palme in Cannes.



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