Anatomie eines Falls Anatomie d'une chute Anatomy of a Fall
Sandra Hüller als Ehefrau unter Mordverdacht in "Anatomie eines Falls" (© Les Films Pelleas / Les Films De Pierre)

Sandra Hüller [Interview]

Ein toter Familienvater in einem Chalet in den französischen Alpen. Die einzigen Optionen: Suizid oder von der Ehefrau ermordet. Der einzige Zeuge: der blinde Sohn der beiden. In ihrem neuen Film Anatomie eines Falls (Kinostart 2. November 2023) untersucht Justine Triet die Dynamiken einer Familie und die Grenzen des französischen Rechtssystems. Getragen wird der Gewinnerfilm der Goldenen Palme 2023 neben seinem tollen Drehbuch vor allem von Hauptdarstellerin Sandra Hüller. Zur Deutschlandpremiere beim Filmfest Hamburg 2023 erzählt sie im Interview von der Arbeit auf Französisch, den Rollen Sandra Voyter und Hedwig Höss und vielem mehr.

Mit drei großen Rollen sind Sie vermutlich eine der Schauspielerinnen des Jahres. Viele Leute prognostizieren ja auch schon Auszeichnungen in der kommenden Award Season. Wie geht es Ihnen damit?

Erstmal freue ich mich natürlich darüber, so viel Anerkennung zu bekommen. Aber ich versuche, das immer mit den Filmen zu verknüpfen. Die Filme sind Gemeinschaftsprojekte und darauf bestehe ich auch. Wir haben jetzt mit beiden Filmen aus Cannes nacheinander die Premieren in den USA, erst mit Anatomie, dann mit Zone of Interest. Was danach passiert, liegt nicht in meiner Hand und ich habe mit Toni Erdmann die Erfahrung gemacht, dass das alles auch ganz schön viel Gerede sein kann, deswegen bin ich sehr vorsichtig, was Prognosen angeht.

Eine Rolle dabei spielt ja sicherlich auch, dass Sie in so schauspielerisch unterschiedlichen Rollen zu sehen waren. Mir fällt da, gerade im Vergleich von Zone of Interest und Anatomie eines Falls, der Einsatz von Körpersprache ein. In Anatomie wird viel gestanden und gesessen und die Mimik übernimmt eine große Aufgabe, während Sie sich in Zone of Interest viel mehr bewegen und die Bewegungen der Figur ja auch sehr viel über sie erzählen. Wie sind Sie das angegangen?

Grundsätzlich ist es ja so, dass alles Körper ist, auch wenn ich nur sitze. Und natürlich muss man sich dabei genauso viele Gedanken machen, wie wenn man sich bewegt. Sitze ich eingeknickt oder gerade, sind die Beine überschlagen oder offen, sind die Hände gefaltet oder die Arme verschränkt, das sind alles Entscheidungen, die man trifft. Aber es ist tatsächlich so, dass die Arbeit an Hedwig Höss körperlicher war als bei Sandra Voyter. Da war es dann mehr eine innerliche Arbeit oder eine Arbeit an der Sprache. Hedwig Höss ist für mich auch eher eine Hülle von etwas gewesen, wenn man das so sagen kann, weshalb ich sie äußerlicher angelegt habe.

Was für eine Hülle ist das?

Ihre körperliche Hülle. Die Art, wie sie geht, wie sie Sachen benutzt oder anfasst. Das zeugt von einer größeren körperlichen Grobheit, als ich sie in meinem Leben haben wollen würde. Gleichzeitig auch von einer Bäuerlichkeit, einer mehrfachen Mutterschaft. Das sind alles Sachen, die ich über ihr Leben wusste und mit denen ich mich dann beschäftigt habe.

Sie haben länger gezögert, die Rolle anzunehmen.

Ja, es war nicht mein Wunsch, Hedwig Höss oder irgendeine Faschistin zu spielen. Das ist ein Gedankengut, mit dem ich mich ungern beschäftige, beziehungsweise mich eher darauf konzentriere, dagegen zu sprechen. Das Rollenangebot war sehr überraschend und ich musste es mir gut überlegen, ob ich mich für eine so lange Zeit in der Form darauf einlassen will.

Ich möchte nochmal auf den Aspekt Hülle bzw. Außendarstellung zurückkommen. Der ist ja auch irgendwo für Sandra in Anatomie eines Falls prägnant. Hat die Rolle von der Arbeit in Zone of Interest profitiert?

Die beiden Drehs lagen ziemlich weit auseinander und ich habe dazwischen auch noch an Sisi & Ich gearbeitet. Deswegen haben die Rollen für mich eigentlich nur sehr wenig miteinander zu tun. Vielleicht ändert sich das in Zukunft mit ein bisschen mehr Distanz zu beiden Filmen, aber momentan kann ich keinen Link herstellen.

Im Gegensatz zu Zone of Interest waren Sie bei Anatomie eines Falls total schnell an Bord. Ich vermute mal, die Beteiligten dürften da auch eine Rolle gespielt haben, aber inwiefern waren Sie auch von der Figur selbst fasziniert? Für mich ist es eine sehr schwer zu lesende, sehr komplexe Figur, das stelle ich mir von schauspielerischer Seite spannend vor.

Ich finde die Figur eigentlich sehr klar. Mir wird oft, lustigerweise meistens von Männern, gesagt, die Figur sei schwer zu lesen. Ich kann sagen, dass ich mich bemüht habe, dass sie sehr transparent ist in dem, was sie sagt und tut. Dadurch, dass ich mich entschieden habe, dass sie immer die Wahrheit sagt, macht sie das letztlich auch und Menschen sind nun mal alle ambivalent. Und ich mag Figuren lieber, die das abbilden. Ich finde jede Vereinfachung des Lebens gefährlich, da sind wir auch wieder bei Zone of Interest. Ich finde jede Art von Kategorisierung schwierig bis gefährlich, weil sie immer was mit Bewertung und potenzieller Ablehnung, mit Ausschluss zu tun hat. Deswegen finde ich, je ambiger eine Figur ist, desto mehr bildet sie das Leben ab, desto reicher macht sie das Leben, macht sie mich als Schauspielerin und hoffentlich auch für die Zuschauer*innen.

Ein wichtiges Thema im Film ist auch Mehrsprachigkeit, beispielsweise ist der Wechsel ins Englische vor Gericht ja eine ganz zentrale Szene. Wie sehen Sie den Aspekt Sprache im Film und war es auch ein Reiz, auf Französisch zu arbeiten?

Ich glaube, sie wechselt die Sprache, weil sie in dem Moment mit Französisch nicht weiterkommt. Es wird zu kompliziert, zu erklären, zu emotional. Für mich war es aber eine ganz tolle Herausforderung auf Französisch zu arbeiten. Ich finde Sprachen allgemein total interessant und beschäftige mich auch privat damit. Ich mag es, andere Sprachen sprechen zu können und herauszufinden, wie sie funktionieren.

Für mich verstärkt diese Sprachbarriere auch die Ambivalenz der Figur. In Interviews in Cannes haben Sie gesagt, Sie hätten Justine Triet gefragt, ob die Figur schuldig ist, um sie besser zu verstehen. Haben Sie die Frage mittlerweile für sich beantwortet?

Es gab für mich einen Moment am Anfang, da habe ich Justine gefragt, weil ich dachte, das sei wichtig für das Spiel. Sie hat es mir aber nicht gesagt und ich hab dann auch gemerkt, dass es nicht so wichtig für mich ist. Ich habe mir irgendwann gedacht, dass die Figur selbst davon überzeugt sein muss, unschuldig zu sein, wenn sie die anderen davon überzeugen will. Sie will verhindern, dass ihr Sohn alleine aufwächst. Das ist das Wichtigste, ihr Antrieb. Davon bin ich ausgegangen und habe darauf aufbauend entschieden, dass sie immer die Wahrheit sagt.

Und das hat dann geholfen, sich in die Figur reinzuversetzen?

Wir haben viele verschiedene Takes von den jeweiligen Szenen gemacht und dabei dann auch verschiedene Varianten ausprobiert. Wie es ist, wenn sie manipulativer ist, wie es ist, wenn sie verzweifelter ist, wenn sie müder ist oder ganz bei sich, stärker, aggressiver… Also da gab es unterschiedlichste Varianten. Mir war es wichtig, dass ich nichts mache, was ich nicht selber glaube.

Ein sehr spannender Aspekt ist auch die Beziehung zwischen Sandra und ihrem Sohn bzw. welche Rolle er einnimmt. Für mich lag in der Beziehung der beiden immer eine große Unruhe bzw. ein großer Unruhefaktor für Sandra. Was zeichnet die Beziehung für Sie aus?

Finden Sie? Ich habe das immer anders wahrgenommen. Ich finde den Sohn wahnsinnig gefasst, vor allem für sein Alter. Er trägt ja auch eine riesige Last, Verantwortung und einen Schmerz mit sich. Und es ist ja auch Teil der Erzählung, ein bisschen infrage zu stellen, ob es sein muss, dass Kinder in der Form an einem solchen Prozess beteiligt sind und so behandelt werden müssen. Der Film fragt das nicht aktiv, aber ich finde, durch das schonungslose Zeigen dieses Prozederes wirft es eben diese Fragen auf. Und natürlich ist das keine entspannte Situation. Sandra muss ihn natürlich weiterhin beschützen, muss aber selber auch mit der Trauer umgehen, mit dem Schock, der unterbrochene Kontakt mit ihrem Sohn, das Sprachverbot mit ihm, all das. Deswegen sehen wir das Verhältnis, das die beiden wirklich zueinander haben, auch nie. Wir sehen nur das Verhältnis in dieser Ausnahmesituation. Ich glaube, dass die Beziehung vom Sohn zum Vater mehr im Fokus steht, als die Beziehung der beiden. Und ich glaube, dass Sandra die Kapazitäten hat, sich dann auch zurückzunehmen, wenn sie merkt, dass etwas anderes wichtiger ist und darüber auch nicht jammert. Sie weiß, da gibt es andere Zeiten und andere Momente, wo man sich wieder findet. Ich halte sie für eine sehr großzügige Person.

Eine ebenfalls sehr prominente Rolle im Film hat der Hund. Er ist das erste und letzte, das wir im Film sehen beziehungsweise hören. Welche Bedeutung nimmt er für Sie ein?

Er ist Teil dieser Kriminalgeschichte und spielt ja auch eine Rolle beim Herausfinden der Wahrheit, wenn es die denn gibt. Vielleicht ist er auch das einzige unschuldige Wesen der ganzen Erzählung. Das fand ich immer so frappant daran.



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