Mary Harron stellte beim Filmfest München 2023 ihren Film "Dalíland" vor (© FILMFEST MÜNCHEN / Bernhard Schmidt)

Mary Harron [Interview]

Dalíland (Kinostart: 7. September 2023) nimmt uns mit ins New York der 1970er und erzählt die Geschichte des Künstlers Salvador Dalí (Ben Kingsley) und seiner Frau Gala (Barbara Sukowa). Beide arbeiten sie auf eine neue Ausstellung hin, die dem langsam in Vergessenheit geratenden Maler noch einmal Aufwind verschaffen soll. Doch so richtig kommen sie damit nicht voran, zumal es auch privat zu Krisen kommt. Wir haben Regisseurin Mary Harron bei der Deutschlandpremiere beim Filmfest München getroffen. Im Interview sprechen wir über die Arbeit an dem Film, die Besonderheiten von Dalí und die Angst vor der eigenen Irrelevanz.

Könntest du uns etwas über die Entstehungsgeschichte von Dalíland erzählen? Warum wolltest du einen Film über Salvador Dalí drehen?

Edward R. Pressman, der damals auch schon American Psycho produziert hat, hat mir immer mal wieder Drehbücher zugeschickt. Darunter war auch eins über Dalí in den 1970ern. Sie wussten aber noch nicht wirklich, wie sie das Thema angehen wollten. Zuerst habe ich abgelehnt. Ich hatte schon I Shot Andy Warhol gemacht und wollte nicht noch eine Lebensgeschichte von einem Künstler verfilmen. Ich habe das Material aber an meinen Ehemann John C. Walsh weitergeleitet, der Drehbücher schreibt, und er hatte eine Idee, wie das aussehen könnte. Er wollte die Geschichte von Dalí und seiner Frau erzählen, zwei alternden Berühmtheiten aus der Kunstszene, die Angst vor dem Tod haben und versuchen, sich von dem Thema abzulenken. Mir gefiel die Idee eines Künstlers, der am Ende seiner Karriere ist und noch einmal zurückblickt.

Es stand also nie zur Debatte, Dalí während seiner Hochphase zu zeigen? Viele Biopics wollen gerade die Phasen, die glamourös sind und von Erfolgen erzählen.

Nein, nicht wirklich. Das war zwar eine sehr spannende Zeit und es wäre interessant gewesen, von ihr zu erzählen. Aber ich hätte es schwierig gefunden, sie wirklich zum Leben zu erwecken. Das Einzige, was mir da einfällt, wäre es so zu machen wie damals Woody Allen in Midnight in Paris, wo die ganzen großen Persönlichkeiten aufeinander treffen. Aber das war in Form einer Komödie. Wir haben diese Berühmtheiten in Dalíland zwar auch erwähnt in unseren Flashback-Szenen, zeigen sie aber nicht, weil es einfach schwierig gewesen wäre, diesen ganzen Leuten gerecht zu werden. Da fand ich es einfacher, einen unerwarteten Zugang auf das Thema zu nehmen. Niemand redet über Dalí in den 70ern in New York. Das hat es für mich interessant gemacht.

Du hast bereits I Shot Andy Warhol erwähnt. Auch in Charlie Says nimmst du die Geschichte eines realen Menschen, dieses Mal Charles Manson. Findest du es einfacher oder schwieriger, Geschichten mit wahrem Hintergrund oder komplett fiktionale Geschichten zu erzählen?

Ich finde es sehr viel einfacher, rein fiktionale Filme zu drehen. Wenn du eine wahre Geschichte nimmst, wird es schwieriger, eine Struktur einzubauen, zumindest wenn du auch wirklich bei der Realität bleiben willst. Denn das Leben hat keine Struktur, hält sich nicht an dramaturgische Formen.

Außer du änderst es.

Außer du änderst es. Aber ich will es nicht zu sehr ändern, weil du dann wieder einiges verlierst. Keine Ahnung, warum ich dennoch immer wieder Filme über wahre Geschichten mache. Wahrscheinlich weil ich ursprünglich aus dem dokumentarischen Bereich komme und deshalb dieses Interesse an wahren Geschichten habe.

Wie viel an Dalíland ist denn fiktional?

Sehr wenig. Nur die Figur des James, eines jungen Assistenten, ist erfunden. Auch die Figur des Galeristen gab es so nicht. Aber es gab natürlich immer Assistenten, es gab immer Galeristen. Wir bewegen uns da also nicht so weit weg, wenn wir solche Archetypen einbauen.

Warum habt ihr James eingefügt? Er ist insofern im Film wichtig, weil die Geschichte oft durch seine Perspektive erzählt wird.

Das ist ein bisschen wie in The Great Gatsby. James ist wie Nick Carraway. In beiden Geschichten hast du eine große Persönlichkeit im Mittelpunkt, die irgendwie rätselhaft ist und auch rätselhaft bleiben soll. Du sollst Leute wie Dalí nie ganz verstehen, weil das von ihrer Aura wegnimmt. Also brauchst du jemanden außerhalb und zeigst, welche Auswirkungen das auf diese außenstehende Figur hat, um so die Hauptfigur besser zu verstehen.

Hast du denn das Gefühl, Dalí inzwischen zu verstehen?

Nein, nicht völlig. Ich glaube, du wirst nie eine definitive Antwort bekommen und ein Ziel erreichen, wenn du einen anderen Menschen verstehen willst. Du kannst dir anschauen, wo dieser Mensch herkommt, was sein familiärer Hintergrund ist. Das bedeutet aber nicht, dass du wirklich in seinen Kopf hineinschauen und das Verhalten erklären kannst. Du kannst auch die Kunst nicht erklären. Du kannst Kunst grundsätzlich nicht erklären. Aber ich glaube, dass ich die Ehe besser verstehe, die Dynamik der beiden und weshalb sie ein Paar geblieben sind.

Wie sahen denn die Recherchen zu der Ehe bzw. dem Film allgemein aus?

Es gab schon sehr viel, das über die Ehe der beiden geschrieben wurde. Auffällig ist dabei, dass sehr viel von dem, was über Gala geschrieben wurde, sehr feindselig war. Natürlich war sie ein schwieriger Mensch. Das allein erklärt das aber nicht, da war schon viel Frauenfeindlichkeit in den Texten über sie. Gerade ihre Sexualität und dass sie bis ins hohe Alter die Nähe junger Männer suchte, stieß auf viel Ablehnung. Wäre es die Geschichte eines alten Künstlers gewesen, der junge Frauen sucht, wäre das viel weniger kontrovers gewesen.

Wäre es heute denn noch immer kontrovers, wenn die beiden in der heutigen Zeit gelebt hätten?

Oh ja. Ich denke, dass es sogar noch kontroverser gewesen wäre. Ein Teil ihres Verhaltens musst du im Kontext der 1970er sehen. Du konntest damals in New York alles machen, ohne dich rechtfertigen zu müssen. Es war eine sehr freie Zeit, unerhört sogar. Heute gibt es deutlich mehr Regeln, an die du dich halten sollst. Das heißt nicht, dass die Menschen das auch tun. Hinter verschlossenen Türen hat sich vielleicht gar nicht so viel geändert. Aber es hat sich schon einiges getan im Hinblick darauf, was heute akzeptiert wird.

Du hast gemeint, dass viele der Texte über Gala sehr negativ waren. Wie hast du anderweitig Zugang zu ihr gefunden?

Es gibt eine sehr gute Dokumentation namens Gala, die sich ihr aus weiblicher Sicht annähert und viele Leute zu Wort kommen lässt, die sie kannten. Das war eine deutlich ausgewogenere Perspektive. Aber ich habe mich auch einfach mit den Fakten aus ihrem Leben beschäftigt, etwa dem Trauma, als russischer Flüchtling in einem fremden Land zu leben. Ihre Besessenheit mit Geld ist etwas, das viele Flüchtlinge haben. Die Angst, nichts zu haben, ist etwas, das ein Leben lang bleibt.

Wenn du Dalí mit anderen surrealen Künstlern vergleichen müsstest, von denen es ja einige gab, was macht ihn besonders?

Ich glaube, dass er eine stärkere Verbindung hatte zu den verbotenen Teilen seiner Vorstellungskraft. Er ging an Orte, an die auch die anderen Surrealisten nicht gingen. So ängstlich er als Mensch auch war, so furchtlos war er, wenn es darum ging, sich in seiner Kunst zu entblößen. Allgemein denke ich, dass Surrealisten viel stärker Zugang zu ihren Träumen hatten als andere und mehr aus sich herausholten.

Und war das gut oder schlecht, dass Dalí keine Hemmungen hatte?

Für seine Kunst war das gut, weil es ohne das diese Bilder nie gegeben hätte. Sein Verhalten anderen Menschen gegenüber ist hingegen mindestens fragwürdig, er war schon narzisstisch. Viele Künstler haben sich damals schlecht verhalten, das gehörte irgendwie dazu.

Daliland
Ben Kingsley als alternder Künstler Salvador Dalí in „Dalíland“ (© SquareOne Entertainment)

Dalíland spielt zu einer Zeit, als Dalí zunehmend irrelevant wurde. Man interessiert sich einfach nicht mehr für ihn. Wie kam es dazu?

Die Kunstszene hatte sich einfach verändert. Vieles sollte damals abstrakt sein, minimalistisch, körperliche Bilder waren verpönt. Dalí wollte sich dem nicht anschließen. Dadurch wirkte seine Kunst wie aus der Zeit gefallen. Letztendlich ist Kunst auch immer Trends unterworfen. Wenn du Warhol nimmst, der galt in den späteren Jahren auch nicht mehr als relevant und es dauerte, bis er wiederentdeckt wurde. Oder Matisse, dessen späteren Werke nicht mehr wahrgenommen wurden. Das Gleiche gilt für Dalí.

Ist das etwas, das dir selbst als Künstlerin Sorgen bereitet? Dass die Menschen irgendwann einfach kein Interesse mehr an dir haben?

Absolut. Wenn du Filme machst, gilt das ganz besonders. Du kannst als Maler auch im hohen Alter noch malen, egal, was andere von dir halten. Du brauchst niemand anderen, um deine Kunst zu machen. Bei Filmen ist das anders. Du brauchst eine Crew. Du brauchst auch Leute, die das Ganze finanzieren. Billy Wilder hat die letzten Jahre in seinem Leben kämpfen müssen, weil er keine Filme mehr drehen konnte. Was sehr traurig ist, weil er mit Sicherheit Ideen hatte.

Und wie sah es bei Dalíland aus? Gab es da Probleme mit der Finanzierung?

Nein, überhaupt nicht. Natürlich hätte ich gern mehr Geld zur Verfügung gehabt. Da waren einige weitere Flashback-Szenen, die ich gern gedreht hätte und die ich streichen musste. Das hat mir schon sehr leid getan.

Kommen wir noch auf das Casting. Das ist bei einem Film, wo ein Mensch derart stark im Fokus steht, noch einmal deutlich entscheidender.

Das stimmt. Inzwischen kann ich mir auch niemand anderen für Dalí vorstellen als Ben Kingsley. Dabei war ich am Anfang skeptisch, als er mir von der Agentur vorgeschlagen wurde. Für mich ist Kingsley Gandhi, ein sehr starker Mann. Dalí ist hingegen in vielerlei Hinsicht ein schwacher Mann. Aber ich habe mir dann noch einmal seine Filmografie angesehen und gemerkt, wie vielseitig seine Rollen waren. Was ich an ihm schätze, ist sein Mut, sich Rollen zu eigen zu machen, auch solche, die schwierig sind. Tatsächlich hatte er Angst davor, Dalí zu spielen, weil er eine solche Berühmtheit ist. Aber er hat es trotzdem gewagt, was ihn für mich als Schauspieler auszeichnet.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person
Mary Harron wurde am 12. Januar 1953 in Bracebridge, Ontario, Kanada geboren. Sie wuchs in einer sehr film- und kunstaffinen Familie auf. Zu Beginn ihrer Karriere arbeitete sie als Kritikerin über Musik und Theater, in den späten 1980ern begann sie, für die BBC Dokumentationen zu drehen. Ihr erster Spielfilm war 1996 I Shot Andy Warhol. Einem gößeren Publikum bekannt wurde sie 2000 durch die Roman-Adaption American Psycho über einen Investment Banker, der ei Doppelleben als Serienmörder führt.



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