Alcarras Die letzte Ernte
© LluísTudela

Alcarràs – Die letzte Ernte

„Alcarràs – Die letzte Ernte“ // Deutschland-Start: 11. August 2022 (Kino) // 15. Dezember 2022 (DVD)

Inhalt / Kritik

Eine Bauernfamilie im katalanischen Hinterland bekommt eine Hiobsbotschaft. Der Verpächter hat das Land, auf dem sich ihre Pfirsichplantage befindet, an ein Energieunternehmen verkauft, das dort einen Solarpark bauen will. Nach der kommenden Ernte ist also Schluss und das Leben einer ganzen Familie ändert sich schlagartig. Innerfamiliäre Strukturen werden aufgerüttelt, generational bedingte Konflikte deutlich und die Angst vor der Existenzlosigkeit erhält Einzug.

Mehr als ein Sozialdrama

Der diesjährige Berlinale-Gewinner Alcarrás wurde von der Jury vor allem für die „herausragenden Darstellungen“ ausgezeichnet. Eine sehr passende Formulierung, wobei darunter nicht nur Schauspiel und Inszenierung zu verstehen sind, sondern insbesondere die thematischen Bezüge des Films. Denn die allergrößte Stärke liegt in seiner Vielseitigkeit, seiner Vielschichtigkeit und in seiner fantastischen Ambivalenz.

Es gibt sehr viele Filme, in denen Menschen durch große Unternehmen, etc. vor existenzielle Hürden gestellt werden. Die meisten bedienen sich dabei einem sehr eingeschränkten Rollenbild von „ausgebeutete Menschen gut – Corpo schlecht“. Das mag zunächst richtig erscheinen, versperrt damit aber die Sicht auf die systematischen Hintergründe. Wenn sich zu sehr auf individueller Ebene mit einer Partei in protagonistischer Rolle und der anderen in antagonistischer Rolle befasst wird, verschließt man nur die Augen. Und Alcarràs findet seine größte Stärke darin, eben genau das nicht zu tun.

Sämtliche Parteien haben eine gewisse Ambivalenz an sich, indem etwa gezeigt wird, dass ihr Handeln genauso wenig eine gute Lösung ist wie ihr Nicht-Handeln. Bereits im Ausgangskonflikt findet sich das wieder. Dass erneuerbaren Energien wie Wind- oder Solarenergie unerlässlich sind, steht nämlich außer Frage. Genauso, dass entsprechend auch mehr Wind- und Solarparks gebaut werden müssen. Trotzdem ist es natürlich fragwürdig, das auf Kosten von Existenzen zu tun. Der Energiekonzern ist also nicht einfach nur böse, sondern hat auch eine gute Seite an sich.

Ein solcher Konflikt ist deutlich interessanter, als wenn die Plantage beispielsweise einer Fracking-Anlage hätte weichen müssen. Und diese Art von Konflikten findet sich zu ganz verschiedensten Themen immer wieder im Film. Wie ist mit der Hasenplage umzugehen, wie mit Saisonarbeiter*innen, was tut der Staat eigentlich? Es ist schon fast beeindruckend, wie viel Regisseurin und Co-Autorin Carla Simón (Fridas Sommer) in Alcarràs anspricht, dass es dadurch zu überladen wirkt. Zu erklären ist das vor allem durch den engen Fokus auf die Figuren.

Familie als Spiegelbild der Ideologien

Und zwar ist es so, dass sich an diesen sämtliche Auswirkungen sowie hintergründige Strukturen der Konflikte widerspiegeln. Alle Figuren stehen dabei für verschiedene Betrachtungsweisen der Konflikte. Sie sind dabei wunderbar dreidimensional, funktionieren aber gleichzeitig genauso auf größerer Ebene als Repräsentation für die Ideologie, die sie verkörpern. Vom alteingesessenen konservativen Vater, über den opportunistischen Onkel bis zu den auf verschiedene Art und Weise progressiven Kindern ist alles vertreten. Und davon profitiert der Film ungemein.

Gerade der Konflikt zwischen sich hier gegenüberstehendem Konservativismus und Wirtschaftsliberalismus ist gelungen, da sich anhand der ambivalent gehaltenen Figuren, für die man immer wieder Sympathie entwickeln kann, zeigt, dass eben nicht die Individuen das Problem sind, sondern das System, für das sie stehen. Die Welt verändert sich. Entsprechend ist es unmöglich, auf vergangene Methoden zu beharren und zu versuchen, den Zustand einer vermeintlich besseren Zeit zu rekonstruieren. Gleichzeitig zeigt sich aber auch die Sinnlosigkeit, sich einem System anzupassen, das kein Interesse daran hat, Dinge zu tun, die dem Kollektiv helfen. Erst durch die Figuren wird die Dysfunktionalität beider Systeme richtig deutlich.

Toll ist außerdem, dass neben den Konfliktherden immer wieder Momente der Harmonie in der Familie einkehren, wodurch unmittelbar auch ein Diskurs über die Rolle von Familien und den Platz familiärer Strukturen eröffnet wird. Die Wärme gemeinsamer Essen und die bittere Machtlosigkeit durch Abhängigkeiten voneinander kontrastieren sich sehr schön. Zwar ist der Film dem Konzept Familie gegenüber insgesamt vielleicht etwas zu positiv eingestellt, allerdings ist das sicher auch hilfreich, um die Figuren sympathisch wirken zu lassen und somit erst einige der anderen Facetten zu ermöglichen.

Präzise Inszenierung

Allgemein wird viel Wert auf Emotionalisierung gelegt, was dazu führt, dass der Film ein eher langsames Tempo an den Tag legt. Recht häufig gibt es entschleunigende Szenen, in denen beispielsweise für einen längeren Zeitraum nur zwischen den Obstbäumen spielende Kinder gezeigt werden. Langatmig wirkt Alcarràs dadurch aber nicht. Viele der Szenen sind fast schon meditativ und tragen zu einer sehr interessanten Sogwirkung bei, durch die man sich regelrecht im Film verlieren kann.

Dazu trägt sicherlich auch die Inszenierung bei, die auf den ersten Blick sehr schlicht wirkt, bei genauerem Hinschauen aber durchaus eine gewisse Präzision aufweist. Das gilt für Dinge wie Licht oder Musik, aber genauso für die Bildkompositionen. Dadurch gelingt ein überzeugendes Visual Storytelling, das den ruhigen Film nur weiterträgt. Dennoch gibt es auch Momenten tollen Schauspiels, die von sehr dezent bis vereinzelt wirklich kraftvoll variieren.

Credits

OT: „Alcarràs“
Land: Spanien, Italien
Jahr: 2022
Regie: Carla Simón
Drehbuch: Carla Simón, Arnau Vilaró
Musik: Ernest Pipó
Kamera: Daniela Cajías
Besetzung: Jordi Pujol Dolcet, Anna Otin, Xènia Roset, Albert Bosch, Ainet Jounou, Joseph Abadia

Bilder

Trailer

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Alcarràs – Die letzte Ernte
Fazit
„Alcarràs“ ist ein toller Film, der es schafft unfassbar viele Themen anzusprechen, ohne dabei zu überladen zu sein. Der Fokus bleibt stets auf der Familie, die als Werkzeug für das Austragen vieler sozialer, politischer oder allgemein gesellschaftlicher Konflikte dient. Diese sind immer ambivalent gehalten, da der Film Dysfunktionalität sehr empathisch kontrastiert, weshalb er trotz zahlreicher Konflikte auf eine klare antagonistische Rolle verzichtet.
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