Jacques Audiard Interview
Regisseur Jacques Audiard (© Neue Visionen)

Jacques Audiard [Interview]

In seinem neuesten Film Wo in Paris die Sonne aufgeht erzählt der französische Filmemacher Jacques Audiard von mehreren jungen Menschen, die sich im 13. Bezirk von Paris über den Weg laufen, sich verlieben und wieder getrennte Wege gehen, während sie gleichzeitig versuchen, beruflich irgendwo Fuß zu fassen. Anlässlich des Kinostarts am 7. April 2022 unterhalten wir uns mit dem preisgekrönten Regisseur und Drehbuchautor über die Adaption der Comics von Adrian Tomine, was diesen Bezirk so besonders macht und was Liebe heutzutage noch bedeutet.

 

Könnten Sie uns ein wenig über die Entstehungsgeschichte von Wo in Paris die Sonne aufgeht erzählen? Wie kam es zu dem Projekt?

Ich wollte schon seit Langem einen Film über die Liebe machen, weil ich noch nie etwas zu dem Thema hatte. Klar, über Umwege fand sich die Liebe immer irgendwo in meinen Filmen. Aber sie war nie das Thema. Als ich dann The Sisters Brothers gedreht habe, in dem es nur Männer gibt und weite Räume und Gewalt, war es für mich an der Zeit, das endlich einmal anzugehen. Dieses Mal wollte ich hauptsächlich von Frauen erzählen und die Geschichte sollte in engen Räumen stattfinden. Und eben ohne Gewalt sein, also das genaue Gegenteil. Und Pferde gibt es dieses Mal auch nicht. (lacht)

Und weshalb haben Sie dafür die Comics von Adrian Tomine als Vorlage genommen?

Eine Freundin hat mich darauf aufmerksam gemacht. Ich war auf der Suche nach möglichen Vorlagen, als sie mir vorgeschlagen hat, mir doch einmal diese Comics anzuschauen. Die seien ein bisschen melancholisch und ein bisschen nervig, genau wie ich. Da war ich natürlich neugierig. Und ich muss sagen: Sie hatte recht!

Und wie war das dann für Sie, aus den Comics einen Kinofilm zu machen? Was waren die Herausforderungen?

Comics haben natürlich eine gewisse Spezifität, sind zum Beispiel in ihrer Erzählweise sehr viel elliptischer. Letzten Endes habe ich sie aber so adaptiert, wie ich auch eine reguläre Kurzgeschichte adaptiert hätte. Dass die Vorlage ein Comic war, hat mich beim Dreh nicht wirklich beschäftigt. Ich habe nicht versucht, den Comic als solchen umzusetzen.

Wie sieht es denn sonst beim Thema Comics aus? Lesen Sie die?

Ich muss gestehen: nein. Das finde ich selbst schlimm. Denn jedes Mal, wenn ich einen Comic lese, den Freunde mir empfohlen haben, finde ich die gut. Ich würde aber nie selbst von mir aus auf die Idee kommen, nach welchen zu suchen. Da lasse ich sie mir lieber schenken.

Sie haben bei der Adaption den Schauplatz von den USA nach Paris verlegt. Weshalb? Welche Bedeutung hat Paris für den Film?

Ich wollte vor allem einen Film über den 13. Bezirk von Paris drehen, in dem ich selbst lange gelebt habe und den ich sehr gut kenne. Der ist für Paris eigentlich gar nicht repräsentativ. Er ist sehr gemischt, was die soziale und kulturelle Zusammensetzung angeht. Aber auch im Hinblick auf die Architektur, weil es der Bezirk in Paris ist, der sich am meisten geändert hat in den letzten Jahren. Insofern würdest du  beim Anschauen gar nicht erkennen, dass du in Paris bist – vor allem nicht, wenn er in Schwarzweiß gedreht ist.

Warum haben Sie Wo in Paris die Sonne aufgeht denn in Schwarzweiß gedreht?

Ich habe zuvor schon mehrfach in Paris gedreht. Die Stadt hat für mich inzwischen etwas sehr Museales bekommen, mit der langen Geschichte, die sie hat. Ich wollte mich von all dem freimachen und Paris so zeigen, als wären wir woanders. Schwarzweiß hilft dabei, weil die farbigen Bilder immer gleich historisch wirken. Wenn du dir die Hochhäuser anschaust, könntest du auch in Shanghai sein oder einer beliebigen anderen zeitgenössischen Metropole.

Paris ist für uns Deutsche, aber auch in anderen Ländern, immer noch die Stadt der Liebe. Ihr Film handelt zwar von der Liebe, ist aber nicht auf diese Weise romantisch, wie es Liebesfilme oft sind. Was genau wollten Sie mit Ihrem Film über die Liebe sagen?

Ich wollte in Wo in Paris die Sonne aufgeht die Mittel der Komödie nutzen, um etwas über den Liebesdiskurs zu erzählen. Ich selbst komme ja noch aus der Steinzeit. Für mich ist noch Eine Nacht mit Maud von Éric Rohmer ein Schlüsselfilm, wenn es um den Liebesdiskurs geht. Heute ist das radikal anders: Man hat sofort Sex beim ersten Date. Und ich wollte wissen, ob es im Anschluss heute noch einen Liebesdiskurs gibt und wenn ja wie und wann der entsteht. Ob man sich heute überhaupt noch sagt: Ich liebe dich. Denn für einen solchen Liebesdiskurs brauchst du eine Intimität, die nicht allein physisch ist. Du musst dich auch gehen lassen können. Dich fallen lassen. Das ist ein spannendes Thema. Viele der Fragen sind bei mir auch erst im Laufe des Projekts entstanden.

Und haben Sie eine Antwort auf diese Fragen gefunden?

Für mich selbst brauche ich die Antwort nicht mehr. Dafür ist es zu spät. (lacht)

Heutzutage hat man sehr viel mehr Möglichkeiten, jemanden kennenzulernen und sich auch näherzukommen. Gleichzeitig beschreiben Sie in Ihrem Film, dass es den Leuten schwerfällt, sich wirklich darauf einzulassen. Ist es dann heute leichter oder schwieriger, die Liebe zu finden?

Das hängt natürlich davon ab, was du erwartest. Man könnte genauso gut sagen, dass man heute nicht mehr so enttäuscht wird wie früher. Früher war es normal, dass du ganz viel Zeit miteinander verbringst und du ganz viel miteinander sprichst, bevor es mal zur Sache ging. Und wenn es dann nicht funktioniert hat und es zu ganz großen Enttäuschungen kam, hattest du entsprechend diese ganze Zeit verschwendet. Wenn du hingegen gleich Sex hast, weißt du woran du bist, ohne vorher viel investiert haben zu müssen.

Eine ganz andere Fragen: Sie haben bei dem Drehbuch mit zwei bekannten zeitgenössischen Regisseurinnen gearbeitet, Céline Sciamma und Léa Mysius. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?

Ich hatte bei diesem Projekt einfach Lust, mit einer Frau zusammenzuarbeiten. Warum genau, weiß ich gar nicht. Vielleicht, damit auf diese Weise auch ein weiblicher Blick entsteht. Céline kannte ich bereits sehr gut und habe deshalb sie gefragt, ob sie nicht Lust hätte. Sie hat dann auch an einer ersten Drehbuchfassung gearbeitet, welche auf den Comics basierte. Ich selbst habe zwischendurch pausiert und an etwas anderem gearbeitet. Und als ich zu diesem Projekt zurückkam, hatte Céline keine Zeit mehr, weil sie mit ihrem eigenen film beschäftigt war. Also habe ich stattdessen mit Léa weitergemacht, einer weiteren jungen Regisseurin. Die fertige Fassung des Films basiert dann auch auf Léas Fassung. Man könnte sagen, dass Céline und ich zuerst den Comic adaptiert haben, Léa und ich im Anschluss diese Drehbuchfassung. Das war eine sehr schöne Zusammenarbeit, mit beiden! Es ist übrigens eine Besonderheit des französischen Kinos, dass diese ganzen Drehbuchautorinnen auch Regisseurinnen sind. Ob du jetzt Céline und Léa nimmst oder auch Julia Ducournau und Rebecca Zlotowski, das sind alles Filmemacherinnen, die ihre eigenen Drehbücher schreiben.

Sie haben den weiblichen Blick angesprochen: Was unterscheidet einen männlichen Liebesfilm von einem weiblichen Liebesfilm?

Ich suche da selbst immer noch nach einer Antwort und könnte jetzt auch gar nicht sagen, ob Wenn in Paris die Sonne aufgeht nun ein männlicher oder weiblicher Liebesfilm ist. Ich denke aber, dass bis zu der Nouvelle Vague alle Filme einen männlichen Blick hatten. Mit der Nouvelle Vague kamen erste Unsicherheiten. Der Blick war zwar immer noch männlich, aber es kamen neue Frauenfiguren hinzu, die den Film sehr bereichert haben.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person
Jacques Audiard wurde am 30. April 1952 in Paris als Sohn des Drehbuchautors und Regisseurs Michel Audiard geboren. Er begann zunächst ein Studium der Literatur und Philosophie an der Pariser Universität Sorbonne, bevor er sich dem Film und Theater zuwandte. Sein erster Erfolg als Drehbuchautor war der auf dem gleichnamigen Roman basierende Thriller Das Auge (1983), dessen Drehbuch er gemeinsam mit seinem Vater schrieb. Sein erster Film als Regisseur war 1994 der Thriller Wenn Männer fallen. Weltweit bekannt wurde er durch den Gefängnisfilm Ein Prophet (2009) und das Drama Der Geschmack von Rost und Knochen (2012). 2015 erhielt er für das Flüchtlingsdrama Dämonen und Wunder – Dheepan die Goldene Palme bei den Filmfestspielen von Cannes. 2018 gab er mit dem Western The Sisters Brothers sein englischsprachiges Debüt.



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