Wir könnten genauso gut tot sein
Jan Mayntz / HEARTWAKE films

Wir könnten genauso gut tot sein

Wir könnten genauso gut tot sein
„Wir könnten genauso gut tot sein“ // Deutschland-Start: 29. September 2022 (Kino) // 31. März 2023 (DVD)

Inhalt / Kritik

St. Phöbus ist ein Wohnkomplex irgendwo am Waldesrand und scheint der letzte Ort zu sein, in dem ein Leben in Sicherheit möglich ist. Immer wieder kommen Menschen und wollen aufgenommen werden, doch der Platz ist begrenzt, die Aufnahmekriterien streng. Die Sicherheitsbeauftragte Anna (Ioana Iakob) ist mit ihrer Tochter Iris (Pola Geiger) selbst erst vor einigen Jahren nach St. Phöbus gekommen. Gerade deshalb ist es ihr wichtig, ihren Job bestmöglich auszuführen. Das gelingt ihr auch gut, doch ein verschwundener Hund lässt die Fassade dieses vermeintlichen Paradieses zu bröckeln beginnen und stellt Anna vor unerwartete Herausforderungen.

Alles nur Dystopie?

Ein Aspekt, der unmittelbar ins Auge sticht, ist die inszenatorische wie emotionale Kälte des Films. Das und der Handlungsort können dabei durchaus Erinnerungen an The Lobster – Eine unkonventionelle Liebesgeschichte wecken. Die Dystopie einer gefühllosen Welt, deren Bewohner*innen menschliche Interaktion auf das Wesentliche reduziert haben und denen Dinge wie der Wert eines menschlichen Lebens nur wenig bedeutet, lässt sich in beiden Filmen wiederfinden.

Zwar reichen die Dialoge nicht an die Genialität Giorgos Lanthimos’ und Efthymis Filippous heran, dennoch verwendet Wir könnten genauso gut tot sein einen ähnlichen grotesken Humor, in dem die Figuren in großen Teilen der Entmenschlichung Preis gegeben werden. Wir lachen, ob der Lächerlichkeit und Absurdität ihrer Handlungen, sind uns aber insgeheim bewusst, dass es sich um eine sehr treffende und ernüchternde Allegorie auf unsere Gesellschaft und deren Strukturen handelt. Zwei dieser strukturalen Kritikpunkte gelten der im St. Phöbus herrschenden, völlig biederen und absurden Heile-Welt-Kultur, die von unterschwelliger Missgunst geprägt ist und in der nur noch ein formales Miteinander herrscht sowie der Doppelmoral bei der Bewertung von Menschenleben. Ein weiterer Kritikpunkt wird auch konkreter veranschaulicht.

Der ewige Rassismus

Die offenbar lebensgefährliche Außenwelt und ein Zielort, der Sicherheit zu bieten scheint, sich aber das Recht einer Exklusivität herausnimmt, erinnert schnell an die Flüchtlingskrise seit 2015. Menschen, die knapp dem Tod entronnen zu sein scheinen, kommen flehend an die Bastion der Sicherheit, um dann dort wie Objekte untersucht und letztlich doch abgewiesen zu werden. Aus der Tatsache, dass sowohl Untersuchte als auch Untersuchende und Urteilende dabei ihre Menschlichkeit verlieren, macht der Film keinen Hehl.

Aber nicht nur die Fragwürdigkeit eines solchen Exklusivitätsprinzips wird herausgestellt, sondern auch grundsätzlich die Themen Migration und Rassismus behandelt. Gerade der Aspekt Integrationszwang und das Scheitern dieses aufgrund von Rassismus steht im Fokus. Zu sehen ist das exemplarisch an Protagonistin Anna, die selbst von außerhalb gekommen ist, sich aber musterhaft integriert zu haben scheint. Nicht nur wird das Verstecken ihrer Kultur und die folgende Aneignung der St. Phöbus-Kultur kritisiert, sondern auch die Scheinheiligkeit dieser gezeigt.  So wendet sich die Stimmung systematisch gegen Anna, als sich mit dem Verschwinden des Hundes langsam Angst und Misstrauen im Wohnkomplex offenlegt. Sofort ist Anna wieder die Andere, die von außerhalb stammt, nicht dazu gehört und eine Gefahr darstellen könnte. Ihr jahrelanges Dazugehören und ihr konformes Verhalten sind auf einmal egal.

Bemerkenswert ist auch die Rolle Annas Tochter Iris, die glaubt, den „bösen Blick“ zu haben. All ihre bösen Gedanken scheinen Realität zu werden, weswegen sie sich von der Gesellschaft isoliert und, um alle zu schützen, im Bad einschließt. In diesem Aufladen einer Schuld und dem daraus resultierenden Verhalten zeigen sich eine weitere Seite des Rassismus’, die nur selten angesprochen wird. Der Betroffenen nehmen die ihnen zugeschriebene Schuld, oder um es weiter zu fassen Rolle der Unpassenden, auf sich. Sie hinterfragen gar nicht mehr, was ihnen zugeschrieben wird und verhalten sich häufig entsprechend. Man könnte dies als eine Art selbsterfüllende Prophezeiung bezeichnen und darin letztlich den Kern der Reproduktion von Integrationsproblematiken, aber auch Rassismus selbst sehen. Die Rassismusforschung untersucht diesen Prozess sehr genau.

Die Kraft der Furcht

Doch bei all diesen Überlegungen zur Reproduktion von Rassismus und der Immanenz von diesem in der Gesellschaft, verweist Wir könnten genauso gut tot sein ebenso auf einen Katalysator dieser Strukturen: Furcht. Eindrucksvoll wird gezeigt, wie die Angst vor dem Unbekannten unsere Gesellschaft korrumpieren und das verborgene Hässliche in ihr aufdecken kann. Denn trotz der Präsenz aller vorigen Probleme, haben diese erst einen Auslöser gebraucht, um sich in Form einer Radikalisierung bemerkbar zu machen.

Einen beeindruckenden Beitrag zu diesem Gesellschaftsprozess trägt auch das Ende bei, das hier aber unerwähnt bleiben soll. Es bleibt nur festzuhalten, dass Wir könnten genauso gut tot sein das schafft, was nur den besten dystopischen Szenarien gelingt: In seiner Überspitzung erschreckende Parallelen zu unserer heutigen Gesellschaft zu ziehen und somit mahnende und warnende Worte loszulassen.

Credits

OT: „Wir könnten genauso gut tot sein“
Land: Deutschland
Jahr: 2022
Regie: Natalia Sinelnikova
Drehbuch: Natalia Sinelnikova, Viktor Gallandi
Kamera: Jan Mayntz
Musik: Michael Kondaurow, Maxi Menot
Besetzung: Ioana Iacob, Pola Geiger, Jörg Schüttauf, Şiir Eloğlu, Moritz Jahn, Susanne Wuest

Bilder

Trailer

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Berlinale 2022

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Wir könnten genauso gut tot sein
Fazit
Regisseurin Natalia Sinelnikova liefert ein beeindruckendes Debütwerk ab, das es schafft, wesentliche Aspekte der Thematiken Migration und Rassismus gleichwohl vielschichtig zu porträtieren und grotesk zu abstrahieren und dadurch gelungen an einen wichtigen Diskurs anschließt.
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