Anima Die Kleider meines Vater
© Flare Film Falk Schuster

Anima – Die Kleider meines Vaters

„Anima – Die Kleider meines Vaters“ // Deutschland-Start: 20. Oktober 2022 (Kino) // 28. April 2023 (DVD)

Inhalt / Kritik

Eine hochheilige Prozession in München: Direkt neben den Kardinälen und dem jungen Politiker Franz Josef Strauß steht ein Domministrant, der unter dem weißen Hemd ein dunkles Geheimnis verbirgt. Seit seinem zwölften Lebensjahr zieht sich der streng gläubige junge Mann die Kleider seiner Mutter an. Größer könnte der Kontrast kaum sein. Hier die strafende Kirche, die gerade in Bayern kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eine heute kaum mehr nachvollziehbare Kontrollmacht verkörperte. Und dort ein Abweichler. Ein Sünder, der nicht dazugehört, weil er nicht weiß, wie ihm geschieht, wenn ihn die Leidenschaft überkommt. Der sich dafür schämt, hasst und immer wieder in Depressionen versinkt. Der fühlt, wie sich eine unsichtbare Wand zwischen ihn und die Welt schiebt.

Bekenntnis am Sterbebett

Der Mann, der seinen Tagebüchern ebenso schonungslos wie humorvoll sein Innerstes anvertraut, ist der Vater der Regisseurin Uli Decker. Von seiner Lust, in Frauenkleidern durch München zu stolzieren, erfährt sie erst auf seinem Sterbebett. Nach einem schweren Unfall liegt der Vater im Koma. Seine Frau beschließt, den beiden Töchtern das Geheimnis anzuvertrauen, das sie selbst schon länger kannte, das aber der Vater der nächsten Generation zu Lebzeiten nicht verraten wollte. Auf Uli wirkt das wie ein Schlüssel zu ihrem eigenen Leben. Als Kind hatte sie sich nie wie ein Mädchen kleiden wollen. Sie war wild und abenteuerlustig, wollte Junge und Mädchen zugleich sein.

Aber wie von dieser Geschichte erzählen? Uli Decker trug die Idee dazu jahrelang in sich und lief trotzdem immer davor weg. Sie hegte Pläne für einen Roman, hatte sogar schon das Drehbuch für einen Spielfilm fertig. Aber erst vor sechs Jahren fiel die Entscheidung für eine sehr persönliche, intime Dokumentation, die sich nicht hinter der Fiktion versteckt. Lange suchte sie nach dem richtigen Tonfall. Am Ende ist es eine berührende, ebenso humorvolle wie schmerzhafte Selbstbefragung geworden, die Menschen jeglicher Geschlechtsidentität anspricht: sowohl jene, die sich sicher sind, als auch jene, die strenge Kategorien überschreiten und etwas Neues ausprobieren wollen. Vater Decker beschreibt es in seinen Tagebüchern so: Er wolle nicht das Geschlecht wechseln und eine Frau werden, sondern „im Transzendieren der männlichen Rolle meiner Seele Freiheit verschaffen“.

Rigide Rollenmuster

Ohne das Leid zu verschweigen, das gerade die rigiden Rollenmuster der Adenauer-Zeit mit sich brachten, plaudert Uli Decker witzig und locker drauflos. Damit führt sie in gewisser Weise den ironischen Ton der Tagebücher weiter. Fast nichts wird bierernst verhandelt und vieles wird in kindlich-verspielte Animationen gepackt, die den Film tragen. Sie drücken aus, was aus Wünschen, Träumen oder fantasievollem Herumspinnen entsteht. Ohne zu viel verraten zu wollen, passt der heitere formale Rahmen auch deshalb so gut, weil der tragische Anteil der Geschichte mehr und mehr der Versöhnung, der Menschlichkeit und einem tiefen Verständnis weicht. Der Film holt quasi das Gespräch nach, das die Regisseurin mit ihrem Vater nicht führen konnte. Das ist, gerade weil es derart tief ins Intim-Persönliche reicht, universell anrührend. Es öffnet das Bedürfnis des Transvestierens dem Mitfühlen aller, die gezwungen werden, ihr wahres Selbst zu verstecken.

Sicherlich konnten Regisseurin Uli Decker und ihre Co-Autorin Rita Bakacs die ungewöhnliche Vater-Tochter-Beziehung auch deshalb so schonungslos offen beleuchten, weil das Bezweifeln binärer Geschlechterrollen inzwischen sogar Eingang in Gesetzgebung und Sprache gefunden hat. Dennoch fühlt sich die Dokumentation niemals so an, als wolle sie auf einen fahrenden Zug aufspringen. Mit politischen Statements hält sich Uli Decker, die in den Fotos und Animationen vor allem als Kind, Jugendliche und junge Erwachsene gezeigt wird, sehr zurück. Nur ganz am Ende tritt sie tanzend als heutiges Ich in Erscheinung und kann sich ein persönliches Bekenntnis nicht verkneifen. „Es hat sich viel verändert, aber Zartheit und Verletzlichkeit haben auch heute noch einen schweren Stand in unserer Welt. Es bleibt noch viel zu tun.“ Wer wollte dem widersprechen?

Credits

OT: „Anima“
Land: Deutschland
Jahr: 2022
Regie: Uli Decker
Drehbuch: Uli Decker, Rita Bakacs
Musik: Anna Kühlein
Kamera: Siri Klug

Bilder

Trailer

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Anima – Die Kleider meines Vaters
fazit
Auf lebensbejahend verspielte Weise nähert sich Uli Decker einem Geheimnis ihrer Familie, das auch sie geprägt hat. Mit großer Leichtigkeit, aber ohne den Schmerz zu überspielen, erzählt sie eine sehr intime Geschichte über starre Rollenmuster und die Sehnsucht nach Verständnis, Versöhnung und seelischer Befreiung. Beim Filmfestival Max Ophüls Preis gab es dafür zu Recht den Preis für den besten Dokumentarfilm.
Leserwertung17 Bewertungen
7.1