Ausnahmezustand

Ausnahmezustand

Kritik

AusnahmezustandAnfang 2016 steht die Welt des Familienvaters Mark Kopf. Nicht nur, dass mit Donald Trump jemand ins Weiße Haus zieht, der die USA und potenziell die ganze Welt mit seiner Politik spalten wird, auch seine Familie ist am Zerbrechen. Seit geraumer Zeit lebt er getrennt von seiner Frau Lisa und die Scheidung ist nur noch eine Frage der Zeit, die Tage der Woche, an denen er seine beiden Kinder sehen kann, haben sie bereits besprochen. Hinzu kommt, dass Mark alle Mühe hat, sich finanziell über Wasser zu halten, denn da sich Lisa nun einen Anwalt besorgt hat, ist der Handwerker auf jeden noch so kleinen Job angewiesen. Doch das Geld reicht vorne und hinten nicht, eine Lage, die noch schlimmer wird, als ihn sein Boss um einen Gehaltsscheck betrügt. Während sich Mark alle Mühe gibt, seine Routine wiederzufinden, bemerkt er, dass dieses Amerika unter Trump sich immer mehr politisiert, aggressiver und depressiver wird. Jede noch so banale Diskussion verweist auf dieses Thema, selbst ein vermeintlich harmloses Geburtstagsgeschenk wird zu einem Statement für ein politisches Lager. Mark beginnt in seinem eigenen Leben, in seinen Erinnerungen auf Spurensuche zu gehen, nach jenem Glück, das er einst erlebte, aber auch nach jenen Momenten, die ihm hätten zeigen können, das etwas nicht stimmt. Dabei bemerkt er, dass auch er dabei ist, sich zu verändern, immer ungeduldiger und reizbarer wird.

Die Politisierung der Normalität
In seinem bereits 2019 entstandenen Comic Ausnahmezustand erzählt der renommierte Illustrator und Autor James Sturm von dem ersten Jahr unter Donald Trump aus der Perspektive eines einfachen Mannes, der versucht zwischen Finanznöten und der Trennung von seiner Frau zu überleben. Wie bereits in seinem vorherigen Werk Markttag konzentriert sich Sturm auf Szenen eines Alltags, in diesem Falle eines Arbeiters und Familienvaters, um über größere Zusammenhänge zu berichten, über die Veränderungen einer ganzen Gesellschaft, der Politisierung des Alltags, an dessen Ende es keine Mitte mehr gibt und die gemäßigten Stimmen nicht mehr zum Zuge kommen.

Ein Werk wie Ausnahmezustand sollte im Kontext der großen Parabeln der Literatur betrachtet werden. In einer der vielen Episoden der Geschichte denkt Mark an eine Theateraufführung von George Orwells Aufstand der Tiere – Animal Farm zurück, eine Erfahrung, die ihn und Lisa verbindet und die auf die Technik hinweist, die in dieser Geschichte zum Zuge kommt. Über den Verfremdungseffekt, durch das Gestalten der Figuren mit einem tierähnlichen Aussehen betont Sturm zugleich das Individuelle der Erfahrungen, von denen er erzählt, doch zugleich, inwiefern diese die Erlebnisse vieler Menschen zu dieser Zeit widerspiegeln, die mit großer Besorgnis die Veränderungen in ihrem Land wahrnehmen. Das Politische und das Private vermischen sich zusehends, eine Trennung ist kaum mehr möglich.

In einer frühen, besonders bedrückenden Episode schildert Mark seine Enttäuschung über das Ausscheiden Bernie Sanders als Präsidentschaftskandidaten, die Ernüchterung über die Nominierung Hilary Clintons, einer Vertreterin des Establishments, im Rennen gegen Donald Trump. Die Reaktion seiner Tochter auf seine Unentschlossenheit und Ernüchterung, ihr Bestehen darauf, er könne nur für das eine oder das andere sein, steht sinnbildlich für den Keil, den diese Wahl in eine Gesellschaft trieb. Es deutet sich an, dass es keine Mäßigung, keine Mitte mehr gibt, nur noch zwei immer radikaler und aggressiver auftretende Seiten, politische Lager, die sich teils schon beim Thanksgiving-Dinner gegenüber sitzen.

Im Hier und Jetzt
Über das Verfremden und die einzelnen Episoden gelingt Sturm das Kunststück des Versuchs einer Diagnose seines Heimatlandes. Der im Titel aufgezeigte Ausnahmezustand zeigt sich in den einzelnen Episoden als Depression, Frustration, emotionale Distanzierung und offene Aggression, die letztlich jeden mitreißt. Aus der Erinnerung an die Vergangenheit speist sich die Sehnsucht nach einer Harmonie, einer Zeit, in der alles „einfacher“ war im Gegensatz zu dem feindlichen „Hier und Jetzt“, in dem jeder um seine Familie und seinen Job bangen muss. Sturm stellt die provokante Frage, ob die Wahl 2015 nicht vielmehr ein Auslöser für etwas war, das sich schon lange angebahnt hat, einer Krankheit, welche Trump und seine Politik noch verschlimmerten.

In all dieser Dunkelheit lässt Sturm dennoch immer wieder die Hoffnung aufblitzen, die Idee, dass man sich, wie Mark, von diesem Schock erholen könnte. Die Möglichkeit der Therapie mag für den Einzelnen ein Ausweg aus dem Teufelskreis sein, doch man muss sich selbst ein Bild davon machen, ob dies für ein ganzes Land gelten kann.

Credits

OT: „Off Season“
Land: USA
Jahr: 2019
Texte: James Sturm
Zeichnung: James Sturm

Bilder

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"Ausnahmezustand" erzählt die Geschichte der USA unter Trump über die Perspektive eines Mittelständlers, der um sein bisheriges Leben bangen muss. Erneut gelingt James Sturm über eine simple Geschichte komplexe Zusammenhänge anzudeuten, verständlich zu machen und auf eine zwischenmenschliche Ebene zu bringen.
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