
Um in Reykjavík über die Runden zu kommen, hat die 25-jährige Isländerin Emilý (Kristrún Kolbrúnardóttir) gleich zwei Jobs. Tagsüber arbeitet sie an der Seite der 15-jährigen Marísa (Laurasif Nora) in einem Plattenladen mit integriertem Café, nach Feierabend ist sie online, um als digitale Sexarbeiterin die Wünsche ihrer Fans und Follower im Internet zu befriedigen. In letzter Zeit denkt Emilý allerdings häufiger darüber nach, zurück an die Uni zu gehen und ihr Studium zu beenden, denn die Sexarbeit läuft nicht sonderlich gut. Weder mit einem männlichen Partner noch mit der befreundeten Kollegin Kría (Edda Lovísa Björgvinsdóttir) klappen geplante Video-Drehs – und dann ist da auch noch ihr nervtötender Nachbar (Þórhallur Þórhallsson), der mit einer lärmenden Wohnungsrenovierung Emilýs Arbeit behindert. Privat kriselt es ebenfalls: Emilýs Freundin Katinka (Magdalena Tworek), eine polnische Geochemikerin, mit der sie eine Fernbeziehung führt, plant, nach Island zu ziehen, was Emilýs sexuelle Freiheiten massiv einschränken würde.
Eine Sexarbeiterin sucht sich selbst
Beim Stichwort isländisches Kino schießen einem unweigerlich bestimmte Bilder durch den Kopf. Beispielsweise majestätische Aufnahmen der ebenso unwirtlichen wie visuell unwiderstehlichen Landschaft aus Feuer und Eis, die nicht nur internationalen Fantasyserien wie Game of Thrones (2011–2019) oder deutschen Fantasyfilmen wie Hagen – Im Tal der Nibelungen (2024), sondern auch vielen heimischen Produktionen als grandiose Kulisse dient. Im isländischen Kino spielt sich vor den Vulkanen, Gletschern und Wasserfällen allerdings nur selten Phantastisches ab. Vielmehr werden die Naturgewalten dafür eingesetzt, um Seelenlandschaften zu spiegeln. Und nicht selten sind diese Einblicke ins Innerste der Menschen rabenschwarz, staubtrocken und ausgesprochen skurril.
In den vergangenen 25 Jahren hat die erstaunlich emsige Kinobranche der dünn besiedelten Insel dem Publikum immer wieder kleine, verschroben-schräge Filmperlen beschert. 101 Reykjavík (2000) und Nói albinói (2003) zählen ebenso dazu wie Von Menschen und Pferden (2013), Sture Böcke (2015) oder Metalhead (2015), wie Under the Tree (2017), Gegen den Strom (2018) und Weißer weißer Tag (2019). Skinny Love des Regisseurs und Drehbuchautors Sigurður Anton Friðþjófsson nimmt sich zu diesen fast schon wie ein Gegenprogramm aus. Ausschließlich in der Hauptstadt angesiedelt, spielt die Natur keine Rolle. Schräg ist allenfalls die Branche, in der die Protagonistin Emilý ihr Geld verdient. Sie selbst und ihr Umfeld könnten kaum geerdeter sein. Und statt auf makabren Galgenhumor setzt Friðþjófsson auf feine Ironie und eine Sensibilität für seine Figuren und die sexualisierte (Arbeits-)Welt, durch die sie sich bewegen.
Positiv zwischen Porno und Polyamorie
„Ein Film, der Ja sagt zum Leben. Und zur Lust“, heißt es auf der Homepage des deutschen Verleihs. Und das stimmt, denn wenn man einem Film das Etikett „sex-positive“ aufkleben wollte, dann diesem. Wie unverkrampft der Regisseur in Skinny Love mit Sex umgeht, ist inspirierend. Das fängt bei seiner Protagonistin an und hört bei deren verständnisvollem Umfeld auf. Selten hat man eine Hauptfigur gesehen, die durch die Gefühlswirren einer anspruchsvollen Sexarbeit und gleich mehrerer parallel geführter Beziehungen so lebensfroh, optimistisch, energiegeladen und letzten Endes klar im Kopf navigiert.
Dass ihre eigene Mutter nichts gegen die Sexarbeit einzuwenden hat, solange die von Kristrún Kolbrúnardóttir beeindruckend natürlich gespielte Emilý dieser Arbeit aus freien Stücken nachgeht, ist eine von vielen schönen Drehbuchideen. Dass die Mutter als Expertin in Finanzfragen für Emilý obendrein die Steuererklärung erledigt, einer der vielen gelungenen Gags. Am Schönsten ist dieser Film, der bei aller Klarheit doch auch von den Unsicherheiten und der Zerbrechlichkeit der Liebe erzählt, wie es der internationale Verleihtitel Skinny Love andeutet, immer dann, wenn es intim wird. Ob während eines postkoitalen Gesprächs im Bett oder bei einem Spaziergang zu zweit in einen Einkaufswagen gekuschelt – Sigurður Anton Friðþjófsson findet oft ungewöhnliche Bilder, die sich zugleich vollkommen normal anfühlen.
OT: „Einskonar Ást“
Land: Island
Jahr: 2024
Regie: Sigurður Anton Friðþjófsson
Drehbuch: Sigurður Anton Friðþjófsson
Musik: Kvikindi
Kamera: Aron Bragi Baldursson
Besetzung: Kristrún Kolbrúnardóttir, Magdalena Tworek, Edda Lovísa Björgvinsdóttir, Laurasif Nora, Berta Andrea Snædal
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