Foto: Christian Werner

Jan-Ole Gerster [Interview]

Wer mit dem Namen Jan-Ole Gerster nicht unmittelbar etwas anfangen kann, dürfte spätestens mit der Nennung seiner Filmtitel sofort im Bilde sein: Sein tragikomischer Debütfilm Oh Boy aus dem Jahre 2012 über einen ziellosen Berliner Ex-Studenten ist geradezu zum Kult avanciert und wurde mit dem deutschen Filmpreis ausgezeichnet. Mit Lara folgte 2019 ein Film über eine gleichermaßen verlorene, aber deutlich toxischere Persönlichkeit, und fand ebenfalls Anklang bei Publikum, Kritiker:innen und Award-Komitees. Sechs Jahre und eine Pandemie später können sich Kinozuschauer:innen über Jan-Oles neueste Regiearbeit Islands freuen: Das Drama besticht mit spannenden Noir-Elementen vor dem Hintergrund einer ikonischen Insellandschaft, gekonnter musikalischer Untermalung und einem fabelhaften Sam Riley in der Hauptrolle. Wir haben uns zum Kinostart am 8. Mai 2025 mit dem Regisseur darüber unterhalten, welche Herausforderungen es bei der Produktion gab, wie international Kino ist, und warum er vom Drehort Fuerteventura eine Tourismusmedaille erhalten sollte.

Hast du ein Faible für desolate Männergestalten? Es gibt da ja schon gewisse Parallelen mit deinem ersten Film.

Ich habe ein Faible für Figuren mit interessanten Brüchen und inneren Konflikten. Ich glaube, mich interessieren Figuren, die bis zu einem gewissen Grad ihren eigentlichen Bedürfnissen und Konflikten aus dem Weg gehen. Und frage mich natürlich, was das mit mir selbst zu tun hat. Ich habe da irgendwie so ein Ding mit Figuren, die Probleme haben, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Desolat? Ja, vielleicht. Übrigens war Lara auch so eine Figur und kein Mann. Das heißt, ich beschränke das nicht auf Männer, Frauen, Junge, Alte — sondern auf Menschen, die der Welt ein Stück weit abhanden gekommen sind.

Islands war deine erste Produktion mit internationalem Cast, die auch nicht in Deutschland gedreht wurde. Es war letztendlich sogar dreisprachig am Set: Deutsch, Englisch und Spanisch. Warum bist du jetzt weg vom rein deutschen Film? Und wie war es? Gibt es Unterschiede oder bleibt sich das gleich?

Ich würde trotzdem sagen, dass es ein deutscher Film ist, auch wenn er in englischer Sprache gedreht wurde. Es ist eine deutsche Produktion mit deutscher Finanzierung. Und alle künstlerischen Gewerke — außer die Schauspieler — waren Deutsche: Produktionsdesignerin, Kostüm, Make-up. Alle künstlerischen Einflüsse in diesen Film, inklusive meiner eigenen, sind also natürlich deutsch. Aber ich denke da gar nicht so viel drüber nach, weil ich finde, dass Kino eine internationale Sprache ist. In einer Zeit, in der alle wieder ihre Grenzen zumachen und Protektionismus-Wahnsinn um sich schlägt, ist es eigentlich toll, dass Kino das Gegenteil macht und sich öffnet.

Es geht natürlich auch um Reichweite und dass englischsprachige Filme ganz andere Möglichkeiten haben, vertrieben und gesehen zu werden. Zudem war es immer ein Traum von mir, mit britischen Schauspielern zu arbeiten und einen Film auf Englisch zu drehen. Und nach zwei Filmen in Berlin fand ich es auch reizvoll, meine nächste Geschichte an einem ganz anderen Ort zu erzählen. Schon bei meinem ersten Besuch auf Fuerteventura habe ich den starken Wunsch verspürt dort einen Film zu drehen. Die Insel und das Urlaubsressort erschienen mir perfekt für mein englischsprachiges Debüt. Ein neutraler Boden für die Schauspieler und Teammitglieder, die aus Deutschland, Spanien und England dort zusammen kamen. Es war eine sehr schöne Zusammenarbeit. 

Die Idee ist dir beim Urlaub auf Fuerteventura gekommen. Es hat dann aber doch noch ziemlich lange gebraucht bis zur Umsetzung, oder?

Ja. Es war lange nur eine vage Idee und ich war zudem in andere Projekte verstrickt. Nach der Veröffentlichung meines zweiten Films begann der Lockdown und da hatte ich plötzlich Zeit und zudem eine wahnsinnige Reisesehnsucht. Keiner wusste ja, wie lange es dauern würde. Mit der Arbeit am Drehbuch konnte ich zumindest gedanklich an einen anderen Ort entfliehen und ich denke, so hat sich auch das Thema Eskapismus und Alltagsflucht als Leitmotiv in den Film geschlichen. Tom ist eine gestrandete Figur, die offensichtlich vor seinem alten Leben davon gelaufen ist. Doch selbst auf der Insel flüchtet er sich in Alkohol, Partys und flüchtige Affären. Bis er auf eine Familie trifft, die zum Urlaub machen auf die Insel kommt. Urlaub – vielleicht auch eine Art der Realitätsflucht.

Ich habe tatsächlich gerade erst letzte Woche Werbung für Urlaub auf Fuerteventura gesehen.

Ich hoffe ja, dass ich von der Insel noch die goldene Tourismusmedaille bekomme.

Der Film stellt es aber nicht nur schön dar, sondern es hat — geprägt durch die Monotonie von Toms Dasein — auch so eine Tristesse. Meinst du, das taugt als Werbefilm für die Insel?

Ich glaube, dass man, wenn man den Film sieht, doch auch massiv auf die Schönheit der Insel hingewiesen wird. Und da wo es schön ist, ist natürlich der Tourismus oft nicht weit. Das Hotel, in dem wir gedreht haben, finde ich architektonisch tatsächlich interessant. Als Drehort war es jedenfalls ein absoluter Traumort. Fast wie eine Fata Morgana ragt es aus der riesigen Sanddüne am Rande des majestätischen Atlantiks. Deswegen glaube ich schon, dass es ein Film ist, der das Publikum einlädt, die Insel mal zu erkunden.

Es war ja durchaus auch mit Herausforderungen verbunden, dort zu drehen, weil gar keine Infrastruktur vorhanden war. Und ihr habt im laufenden Hotelbetrieb gedreht.

Genau. Also ich kannte dieses Hotel und wollte unbedingt dort drehen. Ich war aber nicht sehr zuversichtlich, dass wir eine Drehgenehmigung bekommen würden, weil das ja eine Ort ist, an dem Leute viel Geld bezahlen, um ihre Ruhe zu haben. Ich hatte mich schon von dem Gedanken verabschiedet – und dann hat es doch geklappt. Ich glaube, jemand im Headquarter dieser Hotel-Kette fand die Idee einfach toll. Und der musste ja auch nicht damit umgehen, sondern saß in Madrid, war Kinofan, und hat uns die Genehmigung erteilt.

Wir haben uns dann eng mit dem Management vor Ort abgesprochen und einen sehr guten Plan entwickelt, wann an welchen Orten im Hotel gedreht werden darf. Es gibt zum Beispiel Szenen, da isst die Familie Frühstück. Und das geht nicht, wenn die tatsächlichen Urlauber frühstücken, sondern erst wenn alle schon wieder am Pool sind. Und dann gehen wir rein und haben ein Zwei-Stunden-Fenster, um unsere Sachen zu drehen, bevor das Mittagessen losgeht. Das hat die Dinge manchmal tatsächlich ein bisschen schwieriger gemacht: Aufbau, Abbau, Aufbau, Abbau. Aber irgendwie hat es gut funktioniert. Oder an der Rezeption gibt es auch Stoßzeiten. Die wissen ganz genau, wann die Busse vom Flughafen vorfahren und viel los ist. Und dann gibt es andere Tage oder Uhrzeiten, wo es nicht so voll ist. Das haben wir mit ihnen besprochen und dann hat alles sehr gut geklappt.

Der Einzige, der wirklich gelitten hat, war unser Tonmann, weil die Tonleute immer darauf angewiesen sind, ein relativ ruhiges Set zu haben, wo sie die Dialoge der Schauspieler gut einfangen können. Aber ständig hat irgendwas geklappert, gepiept, jemand ist in den Pool gesprungen, irgendeine Flasche ist runtergefallen, Leute haben einfach in den Take reingesprochen. Das war für Stefan Soltau, unseren Tonmann, schon oft die Hölle. Auch bei anderen Motiven, wenn wir an einem Strand gedreht haben und der Atlantik unerbittlich rein- und rausgerauscht kam. Das Team hat sich oft über die schönen Drehorte gefreut, nur unser Tonmann hat dann immer die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen: „Ich weiß nicht, wie ich hier ein Ton machen soll.“ Aber es hat am Ende doch immer irgendwie geklappt. Und jetzt ist Stefan für den Deutschen Filmpreis nominiert, weil er es eben doch so toll gemacht hat.

Beim Strand habe ich auch gedacht, dass ihr doch überall Sand im Equipment gehabt haben müsst?

Es ging, es ging. Wir haben halt einfach eine extrem tolle Crew gehabt. Tatsächlich haben wir einmal an einem Strand gedreht, wo die Flut kam — es gibt da so kleine Ebbe- und Flutphänomene. Und unser Kameramann hat dann gesagt: „Wenn wir nicht abbrechen, kann ich nicht mehr garantieren, dass ich die Kamera hier heile rausbringe.“ Wir mussten irgendwie am Strand entlang zu einer Treppe, die hoch auf die Steilklippe führte. Und er hat die Kamera beschützt wie seinen Augapfel. Das Team war einfach top!

Du nennst den Film einen „Vacation Noir“, also einen Urlaubs-Noir. Erläutere das doch mal ein bisschen.

Der Begriff kommt gar nicht von mir. Ich habe ihn auf der Streaming Plattform von Criterion entdeckt. Dass ist ein amerikanisches Label, dass unter anderem Filmreihen kuratiert. Und die hatten pünktlich zum Sommerbeginn eine Filmreihe unter der Überschrift „Vacation Noir“ zusammengetragen. Da waren Filme wie A Place in the Sun und Swimming Pool und Nur die Sonne war Zeuge dabei. Ich dachte damals, dass es schön wäre, wenn Islands auch einmal Teil dieser Vacation-Noir-Reihe werden würde. Ich mag den Begriff sehr. Er passt gut zu unserem Film. 

Und der Film hat ja auch klare Ähnlichkeiten mit Patricia-Highsmith-Verfilmungen wie „Nur die Sonne war Zeuge“. Das hörst du sicherlich nicht zum ersten Mal.

Nee, es ist auch tatsächlich nicht so abwegig, weil die Hauptfigur Tom wegen Tom Ripley [der Hauptfigur in mehreren Highsmith-Romanen] so heißt. Nicht, dass ich wirklich Bezug auf irgendein Werk von Patricia Highsmith nehmen wollte, aber ich mag Ripley total gerne. Ich habe ihn als Teenager entdeckt und finde die Figur faszinierend. Und wie er, nimmt auch die Figur in Islands für kurze Zeit eine andere Identität an. Alle Figuren aus Islands machen ja in gewisser Weise Urlaub im Leben des anderen. Ich will jetzt nicht zu viel verraten, aber Dave [der Ehemann und Familienvater] hat Sehnsucht nach dem Leben, das Tom führt. Tom wiederum merkt, dass er doch auch Interesse an profunderen menschlichen Beziehungen hat, und erfährt, was es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen und väterliche Gefühle zu entwickeln. Diese Identitätswechsel nehmen vielleicht ein wenig Bezug auf die Ripley-Figur. Und weil ich beim Drehbuchschreiben zu faul für lange Namen bin, habe ich ihn Tom genannt.

Gibt es deswegen auch so wenige Nachnamen im Film?

Alle haben Nachnamen. Ob die Erwähnung finden, weiß ich gerade nicht. Die Familie heißt Maguire.

Das ist der einzige Nachname, den ich mitbekommen habe. Im Presseheft standen tatsächlich auch nur die Vornamen.

Kann sein. Wenn sie nicht irgendwo eine explizite Rolle spielen, verzichte ich offenbar drauf. Ich weiß aber, dass die Requisiteure genau wissen wollten, wie die Figur heißt, wann sie geboren ist und wo. Für die Flughafenszene wurden natürlich Passports, Flugtickets, Kreditkarten usw. hergestellt und da muss dann natürlich immer alles stimmen und festgelegt werden. Ich habe auch noch den Pass und das Flugticket zuhause, aber ich weiß leider nicht mehr, wie Tom mit Nachnamen heißt. Ich glaube, Wilkins.

Was mich auch noch interessieren würde, ist der Titel: Du wolltest den Film eigentlich gerne „The Tourist“ nennen – aber da gab es schon so viele?

Ich finde das für den Film auch immer noch einen guten Titel. Aber den hat es — wie gesagt — schon drei oder vier Mal gegeben.

Ich finde es spannend, dass das ja nur eine Person bezeichnet. Der Titel jetzt ist aber im Plural, also nicht „Island“ — obwohl es auf einer Insel spielt — sondern „Islands“.

„The Tourist“ hätte trotzdem auf alle Figuren gepasst – auf Anne, auf Tom und auch auf Dave. Ich habe versucht, daran festzuhalten, aber es gab eben, wie gesagt, schon zu viele andere Filme und Serien mit diesem Titel. Schließlich kam ich auf den Titel „Islands“, weil er für mich etwas vom Verhältnis der Figuren zueinander erzählt. Sie gehören zusammen und sind doch jeder für sich alleine. Und natürlich erzählt er etwas von dem Ort, an dem die Geschichte spielt. 

Das Plakat spiegelt das auch wunderschön wieder.

Als ich wusste, dass der Film „Islands“ heißen würde, war klar, dass wir ein Postermotiv brauchen, bei dem klar wird, dass der Titel Bezug auf die Figuren des Films nimmt. Was — glaube ich — jetzt auch deutlich wird.

Absolut. Dann wünsche ich viel Erfolg mit dem Film und danke dir für das Gespräch!

Zur Person
Jan-Ole Gerster studierte Regie an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. Sein Debütfilm Oh Boy (2012) entwickelte sich zum internationalen Überraschungserfolg, wurde von Publikum wie Kritiker:innen gefeiert und gewann u.a. den Deutschen Filmpreis in Gold und den European Film Award für den besten Debütfilm. Jan-Oles zweiter Kinospielfilm Lara (2019) lief weltweit auf Festivals und wurde ebenfalls für den Deutschen Filmpreis nominiert. Mit Islands feierte in diesem Jahr nun sein erster englischsprachiger Film auf der Berlinale Premiere.



(Anzeige)