© Martin Kunze

Alexandros Avranas [Interview]

Alexandros Avranas ist ein griechischer Regisseur, Drehbuchautor und Produzent. Bevor er seine Karriere im Filmgeschäft begann, studierte er Bildhauerei an der Hochschule der Bildenden Künste in Athen und später an der Universität der Künste in Berlin. Gleich mit seinem ersten Film Without konnte er Kritiker überzeugen und er gewann gleich sieben Preise auf dem Thessaloniki Film Festival 2008. Sein Film Miss Violence gewann den Silbernen Löwen auf den 70. Filmfestspielen in Venedig. In seinen Arbeiten greift er immer wieder politische oder soziale Missstände auf und zeigt sie in einem anderen Licht.

In seinem neuen Film Quiet Life (Kinostart: 24. April 2025) spielt er auf das Thema Immigration an und die Folgen für Familien sowie ihre Gefühl von Sicherheit. Dabei bezieht er sich auf ein Ereignis, das vor allem in skandinavischen Ländern bei vielen Familien von Einwanderern beobachtet wurde und bei dem deren Kinder ins Koma fielen, wobei der Zustand der Hoffnungslosigkeit kombiniert mit dem Stress der Einwanderung in eine neue Kultur der Auslöser sein soll.

Wir haben Avranas beim Filmfest Hamburg 2024 interviewt und sprechen mit ihm über die Inspiration für seinen Film, die Nähe von Film zur Bildhauerei und seine Liebe für Regisseure wie Andrei Tarkowski.

Martin Scorsese hat einmal gesagt, dass beim Filmemachen das, was außerhalb des gefilmten Bildausschnitts ist, mindestens genauso wichtig, wenn nicht noch wichtiger ist als das Bild an sich. Inwiefern wird die Wahrnehmung des Zuschauer der Geschichte und der Figuren in Quiet Life durch das beeinflusst, was man nicht sieht?

Das ist eine gute Frage. Ich finde auch, dass man als Filmemacher dem Publikum nicht alles erklären muss. Im Falle von Quiet Life hat der Zuschauer durch die Berichterstattung in den Medien doch bereits ein Vorwissen über Themen wie Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik, sodass ich all diese Dinge nicht noch einmal erläutern muss. Die Aufgabe von mir als Regisseur besteht vielmehr darin, einen Zugang für den Zuschauer zu schaffen, der es erlaubt, dieses Thema aus einer Perspektive heraus zu betrachten, die eine neue Erfahrung ermöglicht. Bei diesem Projekt geht es darum, die Menschen näher kennenzulernen, die von den Prozessen betroffen sind, die außerhalb des Bildausschnitts stattfinden und auf die sie nur wenig einwirken können. Um was es sich dabei handelt und was genau beschlossen wurde, muss das Publikum herausfinden, aber wer genau hinsieht und zuhört, sollte das schnell erkennen.

In Quiet Life geht es um das sogenannte Child Resignation Syndrome, bei dem Kinder oder Jugendliche in eine Art Koma fallen als Folge des Stresses und der Hoffnungslosigkeit, die eine Familie bei der Aufnahme in ein anderes Land und der vorherigen Flucht begleitet. Wann hast du das erste Mal davon gehört und tritt es auch außerhalb der skandinavischen Länder auf?

Im Grunde kann jedes Kind oder jeder Jugendliche von diesem Zustand betroffen sein. Das erste Mal, dass ich von dem Child Resignation Syndrome hörte, war in einem Artikel im New Yorker 2017. Ich konnte zunächst nicht glauben, dass es so etwas gibt, weil es sich anhörte wie etwas aus einen Science-Fiction-Film. Doch als ich weiter recherchierte, merkte ich schnell, dass die Realität noch viel schlimmer war, als es der Artikel vermuten ließ.

Der Auslöser für diesen Zustand  ist ein Trauma oder die Rückkehr zu einem solchen. Ich bin mir sicher, dass dieses Syndrom nicht typisch für die skandinavischen Länder, insbesondere natürlich Schweden, ist, aber ich weiß, dass es dort zum ersten Mal auftauchte und ich dort die ersten Artikel darüber las. In Schweden ist es so, dass die Kinder von Einwanderern zunächst eine Art der Aufnahme erfahren, bei der sie sich sehr sicher und aufgehoben fühlen, was konträr zu der Unsicherheit und dem Schrecken der Flucht steht. Sie gehen zur Schule, haben Freunde und ihre Eltern erhalten vom Staat ein Zuhause. Wenn ihr Asylantrag jedoch zur Disposition steht oder es möglich ist, dass dieser abgelehnt wird, kehren die Kinder wieder zurück zu jener traumatischen Erfahrung kombiniert mit der Angst, nun alles verlieren zu können, was in diesem neuen Land für Sicherheit und Beständigkeit steht. Das ist dann der Auslöser für diesen Zustand, wie auch bei der Familie in Quiet Life.

Wie schon gesagt, das erste Mal gehört habe ich vom Child Resignation Syndrome aus Schweden, aber mittlerweile sind mir Fälle aus Griechenland und Australien bekannt, bei der die Kinder syrischer oder ukrainischer Eltern betroffen sind. Das Child Resignation Syndrome gleicht einer Version der Geschichte einer schlafenden Schönen, nur mit einem meist weniger guten Ausgang. Ich finde dieses Bild und diese Geschichte, die es erzählt, sagt viel darüber aus, was mit Einwanderungs- und Asylpolitik in vielen Nationen falsch läuft.

Die Kinder durchleben ein Leid, für das es keinen Ausdruck gibt und das sehr still abläuft. Wie hast du dies den beiden Kinderdarstellern Naomi Lamp und Miroslava Pashutina in Quiet Life vermittelt?

Naomi und Miroslava wurden nach einer langen Reihe von Castings und Workshops in unter anderem Litauen, Estland und Polen besetzt. Sie wussten also, auf was sie sich einlassen und was es für Rollen sind, die sie spielen würden. Am Set sprach ich mit ihnen nicht wie mit Kindern, sondern wie mit jungen Erwachsenen. Ich ging mit ihnen jede Szene durch und was von ihnen verlangt wurde. Meine beiden Hauptdarsteller, Chulpan Khamatova und Grigory Dobrygin, waren mir dabei eine große Hilfe, vor allem bei der Sprachbarriere, da ich abgesehen von meiner Muttersprache nur noch Englisch und ein paar Brocken Deutsch beherrsche.

Ich denke, dass ich mich sehr glücklich schätzen kann, die beiden für die Rollen gefunden zu haben. Sie verstanden, worauf es bei ihren Rollen ankam. Vor allem fand ich es toll, wie sie, gemeinsam mit den beiden erwachsenen Darstellern, eine Familie spielten.

Wie beeinflussen die politischen Aspekte einer Geschichte deine Herangehensweise als Regisseur?

Wenn ich ein Projekt beginne, starte ich nicht mit politischen Aspekten. Sie spielen für mich zunächst einmal keine Rolle. Mit der Zeit suche ich sie aber in den Geschichten und Figuren und arbeite sie dann heraus. In Quiet Life begann ich damit, eine Geschichte über eine Familie zu erzählen, doch daraus wurde auch eine über diese Menschen gegen ein System.

Ich bin mir nicht sicher, ob das Kino eine Gesellschaft zum Besseren verändern kann. Jedoch bin ich mir sicher, dass ein Film, wie jede andere Kunstform auch, das Publikum zum Nachdenken anregen kann. Wie schon gesagt, kann ein Film den Zuschauer dazu bringen, ein Thema aus einer anderen Sicht zu betrachten oder er kann ihn daran erinnern, was es heißt, jemanden zu beschützen, wie beispielsweise Eltern ihre Kinder schützen wollen. Darüber ergeben sich natürlich andere Aspekte, denn in Quiet Life muss man sich irgendwann fragen, warum es eigentlich so ist, dass diese Eltern ihre Kinder nicht schützen können, obwohl sie es doch wollen und alles tun, damit es ihnen besser geht. Darüber muss man nachdenken und über den Film hinaus reden, denn wie in den Figuren in meinem Film geht es leider vielen Menschen.

Es gibt diesen schönen Moment in Quiet Life, wenn die Familie durch diese graue, dunkle Tiefgarage geht und auf diesen kleinen Garten trifft, in dessen Mitte ein Baum steht, der vom Sonnenlicht umgeben ist. War diese Szene schon immer im Drehbuch drin oder hast du sie extra geschrieben, weil du so begeistert warst von diesem Ort?

Es ist interessant, dass du mit deinen Fragen genau die Punkte ansprichst, die mir vor und während der Dreharbeiten die meisten Sorgen bereitet haben, nämlich die Besetzung der beiden Kinder und den Drehort für das Finale des Films. Meine Crew und ich machten uns in Göteborg auf die Suche nach geeigneten Orten für die Szenen und fanden dabei diese wunderschöne Szenerie vor. Inmitten dieser Einöde aus Zement und Beton finden wir uns auf einmal wieder vor einem Baum und einem kleinen Garten. Das ist doch wie in einem Film Tarkowskis.

Die Szene, wie sie im Drehbuch stand, musste ich nicht groß verändern, denn alles ergab sich, als wir an diesem Ort drehten. Wir mussten lediglich auf das richtige Licht warten und den Kontrast zwischen der dunklen Tiefgarage und dem hellen Sonnenlicht.

Inwiefern würdest du sagen, war dein Studium der Bildhauerei in Athen und Berlin eine gute Vorbereitung auf deine Tätigkeit als Regisseur?

Im Grunde mache ich mir als Bildhauer ähnliche Gedanken wie als Regisseur. Ich denke über Aspekte wie Bewegung, den Platz zwischen Gegenständen und Personen und über Textur nach. Komposition und Rahmung spielen eine große Rolle in beiden Bereichen, mit dem Unterschied, dass ein Film ein größeres Publikum erreicht. Was ich aber von meinem Studium mitgenommen habe, ist das Bewusstsein, dass man nur etwas macht, wenn man auch etwas zu sagen hat. Ansonsten produziert man nur Kommerz, was vielleicht mehr Geld einbringt, aber ansonsten leer und redundant ist.

Vielleicht ist das, was du machst, näher an dem, was der von dir schon angesprochene Andrei Tarkowski mit dem „Versiegeln von Zeit“ meint?

Das mag sein, ist aber nicht beabsichtigt. Weißt du, es kommt oft vor, dass man etwas dreht oder fotografiert und man findet bei näherer Betrachtung heraus, dass es irgendwie zu nahe an den eigenen Vorbildern ist. Manchmal sucht man aber genau einen solchen Moment. Die Szene im Parkhaus in Quiet Life ist ein solcher Moment, mir fiel erst im Nachhinein auf, das die auch gut in einen Film Tarkowskis gepasst hätte. Es ist ein schöner poetischer Moment.

In einem Interview von 2014 zu deinem Film Miss Violence sprichst du von einer moralischen Krise in Europa. Wie siehst du das zehn Jahre später?

In gewisser Weise ist es schlimmer geworden. Was ich schlimm finde, ist dieser Schutzschild, den sich viele Menschen aufgebaut haben, der ihnen erlaubt, das Leid zwar zu sehen, nicht aber zu erkennen, was es für die Menschen heißt, die sie im Fernsehen, in der Zeitung oder in dem YouTube-Video sehen. Das ist der Kern eines Filmes wie Quiet Life. Wir leben in einer Welt voller Krisen, mit Kriegen, Armut und Masseneinwanderung und irgendwie haben es viele geschafft, all dies auszublenden, oder eben nur für die paar Minuten Abendnachrichten zuzulassen oder eben die Dauer eines kurzen Videos.

Um noch einmal auf Tarkowski zu sprechen zu kommen: Wir leben in einer Welt, in der viele von uns nur schauen, aber nicht sehen. Was er meint, war auf das Medium Film bezogen, trifft aber unsere heutige moralische Krise auf den Punkt. Tagtäglich werden wir mit Krisen konfrontiert und dem Elend unserer Mitmenschen, aber die Motivation zu handeln, empfinden leider nur sehr wenige. Die Scheu davor, Emotionen zu zeigen und empathisch zu handeln, ist sehr groß geworden.

Vielen Dank für das tolle Gespräch.



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