Kanarie Canary
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Kanarie

„Kanarie“ // Deutschland-Start: 29. November 2019 (DVD)

Mitte der 80er Jahre wächst Johan Niemand (Schalk Bezuidenhout) in Südafrika auf, welches sich schon seit Jahren im stetigen Kampf der Apartheid befindet. Eigentlich will der junge Mann den Krieg umgehen, fühlt sich ohnehin nicht richtig zugehörig und wird für seine Vorliebe zu Boy George in seiner Heimatstadt auch mehr als belächelt. Dann wird er allerdings zum Dienst einberufen. Und trotzdem sieht er seine Chance in der möglichen Aufnahme zu den Canary, dem christlichen Soldatenchor der Armee. Erhofft sich, dem militärischen Drill zu entgehen und nach den zwei Jahren dadurch vielleicht auch das Weite suchen zu können, denn das Land bietet ihm nicht die Möglichkeiten, die er sich so sehnlichst wünscht. Dann kommt aber alles anders, als er Wolfgang (Hannes Müller) kennenlernt. Denn plötzlich stellt er nicht nur die Religion, sondern auch Patriotismus und seine Sexualität in Frage – der Beginn einer nicht ganz einfachen Selbstfindungsreise.

Dass der Regisseur Christiaan Olwagen seine Hauptfigur Johan Niemand nennt scheint nicht von ungefähr. Denn der junge Mann wird in dem Coming-of-Age Kriegsmusical auf eine Reise geschickt bei der er feststellen wird, dass auch ein „Niemand“ Jemand sein möchte und wissen will, wo sein Platz im Großen und Ganzen ist.

Aus Liebe zur Musik
Obwohl der Film auch als Musical betitelt wird, baut Olwagen erstaunlich wenig dieses Genres ein. Johan, der Boy George und dem britischen New Wave verfallen ist, bekommt gleich zu Beginn eine starke Sequenz zugeschrieben die unglaublich gut funktioniert. Eine die mitreißt und Lust auf den Film macht, denn wer hat die Lieder mit dem melodischen Rhythmus nicht auch noch im Ohr? Eine schleichende, aber bunte Verwandlung in Boy George gewährt er seinem Protagonisten, der voller Überzeugung durch die Straßen seiner kleinen Stadt tanzt und bei der der Liedtext die Situation in der sich der Hauptdarsteller befindet ausdrückt und dementsprechend auch der Handlung sowie der Figurenentwicklung an sich dient. Der erste Eindruck lässt Erinnerungen an das Biopic Rocketman über Elton John wach werden, welches zu Beginn dieses Jahres erschien.

Dass Musik als wesentlicher Plotträger einer Geschichte und ihrer Dramaturgie funktionieren kann, hat das Musical damals nur zu deutlich bewiesen. Da ist es tatsächlich mehr als schade, dass Kanarie lediglich zwei dieser musicalartigen Ausflüchte auffährt. Zwar gibt es noch mehr Szenen die musikalisch begleitet werden, allerdings fokussiert sich der Regisseur auf die Gesangseinlagen des Chors, dem titelgebenden Canary. Auch die sind schön anzusehen, haben aber nicht den Effekt, den die Boy George Songs haben. Ein bisschen verspielt der Regisseur hier die Chance, seinem Film über die etwas mehr als zwei Stunden Laufzeit ein annehmliches Tempo zu verpassen. Denn Kanarie leidet etwas am zu langsamen Erzähltempo und weist damit deutliche Längen auf, die im letzten Drittel sogar noch stärker hervortreten als es einem lieb wäre. Und das obwohl gerade in diesem die Hauptfigur ihre offensichtlichste Entwicklung durchmacht.

Von allem etwas
Als kleine Schwäche stellt sich für Kanarie demnach der Genremix dar, bei dem auch der Kriegsfilm natürlich eine wichtige Rolle einnimmt, immerhin war und ist die Apartheid Südafrikas ein bedeutender geschichtshistorischer Abschnitt des Landes, welches aber nicht so recht in die Gänge kommt. Dafür ist das Thema dann doch zu komplex, um dann auch noch ausreichend umfassend die Selbstfindung des Johan Niemand ausbauen zu können. Einige überaus wichtige familiäre Momente verschwimmen in der Erzählung und man neigt ein wenig dazu, vieles viel zu schnell wieder zu vergessen, da der Einfluss auf die Dramaturgie stellenweise kaum erkennbar ist, obwohl es so viel mehr Spielraum nach oben gegeben hätte.

Ebenso hätten die Schauspieler etwas mehr Herausforderung für ihre Charakterdarstellung gebrauchen können. Es fällt einfach zu sehr auf, dass man hier deutlich hinter den Möglichkeiten zurückbleibt. Schalk Bezuidenhout, der mit Kanarie sein Langfilmdebüt gibt, zeigt dass er vielseitig sein kann, und trotzdem fehlt es seiner Figur einfach an emotionaler Tiefe um dem Zuschauer die Zerrissenheit und beispielsweise auch eine gewisse Ernüchterung. die sich später einstellen wird näher zu bringen. Eine Charakterverbundenheit sucht man hier dann am Ende leider vergebens. Kanarie wollte vielleicht einfach zuviel und zeigt sich dann am Ende voller unerfüllter Erwartungen.



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„Kanarie“ findet als kontrastreicher Genremix nicht richtig zu seiner Mitte und verliert sich zusehends in einer Geschichte, die zwar schwergewichtig ist, aber es nie so richtig auf den Punkt bringt, um den Zuschauer entweder mit der Coming-of-Age oder mit der historischen Seite zu beeindrucken. Ohne ein stetiges Tempo leidet „Kanarie“ gerade im letzten Drittel unter seine Länge und verspielt anfängliche Sympathien.
6
von 10