Sieben Minuten nach Mitternacht
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Sieben Minuten nach Mitternacht

(„A Monster Calls“ directed by Juan Antonio Bayona, 2016)

Sieben Minuten nach MitternachtEs läuft nicht gut im Leben des 12-jährigen Conor (Lewis MacDougall). Gar nicht gut. In der Schule wird er ständig gehänselt. Seine Mutter Elizabeth (Felicity Jones) ist schwer krank und kann sich nicht mehr um ihn kümmern. Auch sein Vater (Toby Kebbell) ist fort, in die USA ausgewandert, wo er eine neue Familie gegründet hat. Und so ist es ausgerechnet seine strenge Großmutter (Sigourney Weaver), die in Zukunft das Sagen hat. Als wäre das Zusammenleben bei all den Regeln und den Ermahnungen nicht schon schlimm genug, macht Conor auch noch eine unheimliche Begegnung: Pünktlich um sieben Minuten nach Mitternacht erscheint ein riesiges Baummonster, um ihm drei Geschichten zu erzählen, von denen eine seltsamer ist als die andere.

Es ist nur eine von den vielen Szenen von Sieben Minuten nach Mitternacht, die so klein und doch so groß sind. Conor sitzt gerade im Auto mit seinem Vater, der aus den USA vorbeigekommen ist und versucht zu verstehen, warum dieser fortgegangen ist. Warum er nicht zurückkommt. Warum er Conor nicht bei sich haben will. Eine richtige Antwort kann er seinem Sohn nicht geben. Denn manchmal ist das Leben zu kompliziert, um eine richtige Antwort zu finden. Die Menschen würden nicht immer „happily ever after“ leben, wie es uns die Märchen lehren. Es reicht nur für ein „messily ever after“. Ein Leben, das nie ganz in Ordnung ist, voller Chaos. Ein Schlamassel. Eine der drei Geschichten, die der nachts zum Leben erwachte Baum zu erzählen hat, endet mit einer ganz ähnlichen Moral: Es kann nicht alles gut ausgehen.

Im Grenzbereich zwischen Märchen und Alltag
Ähnliche Verzahnungen finden sich immer wieder in dem Film: Das wahre Leben und die nächtliche Fantasywelt, sie sind natürlich miteinander verknüpft. In welcher Form, das ist relativ schnell klar. Worauf Sieben Minuten nach Mitternacht aus ist, worauf die Geschichte um den Jungen und seine todkranke Mutter hinausläuft, das kündigt sich früh genug an. Und doch versetzt einen diese Mischung aus Drama und Fantasy immer wieder in Erstaunen. Indem es komplexe Wahrheiten so zusammenfasst, dass sie auch ein Kind annehmen kann. Indem es Worte für etwas findet, für das es keine Worte geben sollte.

Und Bilder. Viele wunderbare Bilder. In fantastischen und stilistisch sehr ungewöhnlichen Animationssequenzen erzählt der knochige Baum des nahegelegenen Friedhofs seine Märchen, die nur wenig mit den kunterbunten Heile-Welt-Musicals von Disney zu tun haben, aber doch einen ganz eigenen Zauber entfalten. Ob von Hexen, Prinzen oder Monstern die Rede ist, diese Sequenzen hätten gut und gern ein eigener Film werden dürfen. Ungewöhnlich sind natürlich auch die Geschichten, die davon handeln, dass vieles im Leben nicht das ist, was es scheint. Dass es manchmal unmöglich ist, eine Grenze zwischen gut und böse zu ziehen – auch wenn das einem andere Jugendfilme oft weismachen wollen. Dass es Abgründe gibt, die zum Leben einfach dazugehören. Abgründe da draußen in der Welt. Abgründe in einem selbst.

Tragische Geschichte mit tragischem Hintergrund
Fast hätten es diese Abgründe auch verhindert, dass uns Sieben Minuten nach Mitternacht mit dorthin nimmt: Die englische Kinderbuchautorin Siobhan Dowd hatte die Geschichte erzählen wollen, die sich mit Krankheit, Tod und der Selbstsuche befasst, als sie selbst schon im Sterben lag. Patrick Ness war es, der das Buch am Ende schrieb, nachdem Dowd zu früh ihrer Krankheit erlegen war. Er war es auch, der am Ende das Drehbuch verfasste, das der Spanier Juan Antonio Bayona auf die Leinwand brachte. Mit persönlichem Drama und Horror kennt sich der Regisseur bestens aus, stammten von ihm doch auch The Impossible und Das Waisenhaus. In Sieben Minuten nach Mitternacht verbindet er beides und wandelt damit auf den Pfaden seines mexikanischen Kollegen Guillermo del Toro, der in Pans Labyrinth ebenfalls die Grenzen zwischen Realität und dunkler Fantasy aufhebt. Der Schrecken und Märchen verwendet, um von dem Aufwachsen eines Kindes zu erzählen.

Dabei spornt Bayona sein Ensemble wie eben auch bei The Impossible zu Höchstleistungen an, ohne die der Alptraum nicht halb so bewegend wäre. Sigourney Weaver (Avatar – Aufbruch nach Pandora) als gefühlskalte und doch selbst schmerzerfüllte Großmutter, Felicity Jones (Rogue One: A Star Wars Story) als Freigeist, der im Nichts verschwindet. Vor allem aber Liam Neeson (96 Hours), der im Original den unbarmherzigen und doch weisen Baum spricht und die Entdeckung Lewis MacDougall hinterlassen großen Eindruck. Von der Mutter einmal abgesehen, die in den Augen des Jungen wie eine Heilige wirkt, vermeidet es der Film, die Figuren zu einseitig zu zeigen. Auch Conor darf dunkle Seiten haben. Er muss es sogar: Sieben Minuten nach Mitternacht handelt nicht von dem gut gemeinten Alltagsrat, dass man alles schaffen kann. Denn das kann man nicht. Niemand kann das. Am allerwenigsten ein Kind, das gerade im Begriff ist, seine Mutter zu verlieren.

Ein Märchen, das uns schwach sein lässt
Auch deshalb geht einem Sieben Minuten nach Mitternacht so nahe: Der große Abräumer bei den Goya Awards 2017 nimmt nicht die Form eines Märchens an, um uns von einem besseren Leben träumen zu lassen. Es lehrt uns das Leben anzunehmen, das wir haben, in all seinem Schmerz, in all seiner Trauer. Mit all dem Schlamassel. Mit poetischem Einfühlungsvermögen aber auch dem Mut zur Schwäche und zur Hässlichkeit. Dass dieser herzzerreißende Film weltweit an den Kinokassen derart gefloppt ist, obwohl er aus Angst vor der Blockbusterkonkurrenz mehrfach verschoben wurde, ist die größte Tragik eines tragischen Projekts. Vielleicht finden sich ja in Deutschland, eines der letzten Länder, in denen das ungewohnt vielschichtige und erwachsene Coming-of-Age-Drama anläuft, ja mehr Zuschauer. Verdient hätte es das.



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Wundervolle Animationssequenzen, ungewohnt vielschichtige Märchen und Figuren und ein starkes Ensemble: „Sieben Minuten nach Mitternacht“ verknüpft realen Schmerz und alptraumhafte Fantasy zu einem herzzerreißenden Coming-of-Age-Drama, dessen Ende man kommen sieht und dennoch nicht entkommen kann.
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