The Wounded Angel
© déjà vu Filmverleih

The Wounded Angel

(„Ranenyy Angel“ directed by Emir Baigazin, 2015)

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„The Wounded Angel“ läuft ab 3. November im Kino

Wer hier lebt, der tut das oft ohne wirkliche Perspektive. Vor allem die Jungen des kleinen Dorfes in Kasachstan sind sehr damit beschäftigt, einen Platz zu finden, an den sie gehören. Balapan (Madiyar Arripbay) wüsste dabei schon, was er werden möchte: Sänger. Das Talent und die Stimme hat er, sein Umfeld reagiert jedoch oft mit Spott auf seine Pläne. Auch bei Aslan (Omar Adilov) läuft es nicht wirklich, trotz seiner wissenschaftlichen Begabung hadert er mit dem Lernen fürs Medizinstudium. Zharas (Nurlybek Saktaganov) und Zhaba (Madiyar Nazarov) wiederum haben nicht einmal mehr Träume, an die sie sich klammern können, der Alltag reicht ihnen völlig: Ersterer muss in einer Getreidehandlung arbeiten, weil sein vorbestrafter Vater keine Arbeit findet, der zweite hält sich mit dem Verkauf von Schrott über Wasser.

Nein, man kann nicht unbedingt behaupten, dass es Emir Baigazin bei seinem zweiten Film gut mit einem meint, nicht mit den Protagonisten, nicht mit den Zuschauern. The Wounded Angel heißt er, handelt aber nicht von Religiosität. Viel zu sehr sind die Menschen in dem Dorf mit dem hier und jetzt beschäftigt, damit genug zu essen zu bekommen. Abends wird der Strom abgestellt, die Kinder müssen arbeiten, sofern sie überhaupt etwas finden, ständig wandert der Film durch verlassene oder baufällige Bauten. Hin und wieder treffen die Jungs dabei Erwachsene, oft aber nicht. Die Welt der Eltern ist eine andere, irgendwie da, irgendwie auch wieder nicht.

Gleiches gilt auch für den Film als solchen. Es ist oft bedrückend, was Baigazin da zu erzählen hat, wenn er sich an das Kasachstan Mitte der 90er Jahre zurückerinnert. Eine Zeit, in der alles zusammenbrach, aber nicht wirklich etwas Neues nachkam. Und doch haftet den wunderbar komponierten Bildern oft etwas Entrücktes an, etwas sehr Kunstvolles. Etwas, das man so sehr bewundert, dass man dabei vergisst, worum es eigentlich gerade geht.

Wobei das in dem Episodenfilm ohnehin teilweise schwer zu sagen ist. Immer wieder geraten die vier Jungs in schwierige Situationen, müssen moralische Entscheidungen treffen, ohne dass die Welt oder die Erwachsenen sie darauf vorbereitet hätten. Warum sie die Entscheidungen so treffen, erschließt sich als Außenstehender dann auch nicht immer. Wie auch, wenn wir kaum etwas über die Menschen erfahren? Baigazin konzentriert sich stärker auf die Situationen und die Stimmungen, die Figuren selbst verschwinden darin, manchmal scheint er auf dem Weg auch diverse Zwischenschritte weggelassen zu haben.

Ein wenig rätselhaft ist das, gerade zum Ende hin, wenn nicht einmal mehr sicher ist, ob wir uns noch in der Realität aufhalten. Ein bisschen zu Cemetery of Splendour vergleichbar, so ist auch das kasachische Drama eine zugleich schonungslose wie verträumte Auseinandersetzung mit dem Erbe, manchmal nahe zum Surrealen. Der Unterschied: In The Wounded Angel ist es der Blick der nachfolgenden Generation, der umherstreift und sich dabei verliert. Symbole der Unschuld, dem Engel gleich, gleichzeitig aber von der Welt so zerstört, dass sie nicht davonfliegen können. Angesichts der allgegenwärtigen Probleme, der traurigen, sehr langen Aufnahmen braucht es einen inneren Panzer, um bis zum Ende durchzuhalten. Und auch etwas Geduld, denn die tendenziell eher handlungsarme Geschichte lässt sich viel Zeit und kommt doch nicht wirklich davon – so wie die vier Protagonisten eben auch.



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„The Wounded Angel“ nimmt uns mit ins Kasachstan Mitte der 90er, wo Armut und Perspektivlosigkeit das Leben vierer Jungs bestimmt. Doch trotz des allgegenwärtigen Elends hat der recht handlungsarme Film etwas sehr Kunstvolles an sich, gerade auch der wundervoll komponierten, oft menschenleeren Bilder wegen.
6
von 10