Spring and Chaos
© TV Iwate, Group TAC

Spring and Chaos

(„Īhatōbu Gensō Kenji no Haru“ directed by Shôji Kawamori, 1996)

Spring and ChaosUnd wir bleiben beim Thema Katzen, denn auch in Teil 36 unseres fortlaufenden Animationsspecials übernimmt eine Samtpfote die Hauptrolle. Doch unterschiedlicher könnten sie nicht sein: Während letzte Woche Fritz the Cat zeigte, dass eine Zeichentrickfigur sehr wohl über ein gesundes sexuelles Interesse verfügen kann, verkörpert unser heutiger Protagonist den Typ weltfremder, sensibler Träumer.

„Provoziert durch des Zornes Bitterkeit und Unreife, unter goldenem Aprilhimmel, spucke ich, knirsche die Zähne und laufe hin und her. Ich bin Chaos.“

Gerade einmal 37 Jahre alt wurde Kenji Miyazawa, gekannt hat den japanischen Autor und Dichter zu Lebzeiten auch kaum jemand. Das mag an seinen Werken selbst gelegen haben, die rätselhaft, scharfsinnig, universell und persönlich zugleich waren. Vor allem aber daran, dass kaum eines seinerzeit veröffentlicht wurde, erst nach seinem Tod wurde er in Japan zu einem der bekanntesten Literaten des 20. Jahrhunderts. Statt aufs Schreiben konzentrierte sich Miyazawa ohnehin meist auf deutlich irdischere Dinge, arbeitete als Lehrer, setzte sich für die sozial schwachen ein, versuchte unter anderem das Leben der Bauern zu verbessern, indem er an neuen Agrartechniken arbeitete.

Dieser Zeit ist dann auch Spring and Chaos gewidmet, ein 1996 anlässlich des 100. Geburtstages des inzwischen gefeierten Autors erschienener TV-Film. Nicht einmal eine Stunde lang ist der Anime, zu wenig um selbst einem so kurzen Leben wie dem Miyazawas gerecht zu werden. Aus diesem Grund versuchte Regisseur und Drehbuchautor Shôji Kawamori (Vision of Escaflowne, Macross) auch erst gar nicht, eine umfassende Biographie zu drehen, sondern konzentrierte sich auf einige wenige Jahre, lieferte impressionistische Momente, in denen die Beziehung zu seiner Familie, aber auch seine Weltauffassung im Mittelpunkt standen: Miyazawa wird als beliebter, wenn auch exzentrischer Mensch porträtiert, der unbeirrt seine Träume verfolgte und dabei nicht immer ein Bewusstsein für die Außenwelt mitbrachte.

Das rückt ihn natürlich in die Nähe von Jiro Horikoshi, jenem umstrittenen Flugzeugbauer, dem Hayao Miyazaki in Wie der Wind sich hebt unlängst ein filmisches Denkmal setzte. Im direkten Vergleich mit dem Abschlusswerk des Anime-Urgesteins schlägt sich das kleine Fernsehspecial sogar äußerst wacker. Optisch hat die Produktion des Studios Group TAC (Tom, Crosby und die Mäusebrigade, Street Fighter II) allein schon aufgrund seines Alters und seines geringen Budgets gegen Studio Ghibli keine Chance. Während Wie der Wind sich hebt mit seinen ausgefeilten Animationen, den detailreichen Hintergründen und dem geschickten Einsatz von Computereffekten ein fulminantes Beispiel dafür ist, wie ein Zeichentrickfilm im 21. Jahrhundert aussehen kann, ist der Anblick hier weit weniger spektakulär. Ob es die Bilder an sich sind oder ihre Bewegungen, das ist oft spärlich, hinzu kommen Rendergrafiken, die nicht gerade in Würde gealtert sind.

Inhaltlich ist Spring and Chaos jedoch – nicht nur aufgrund seiner deutlich kürzeren Laufzeit – prägnanter, am Ende auch eindrucksvoller. Die einzelnen Szenen fügen sich zu dem stimmigen Porträt eines Mannes zusammen, der Figuren in Wolken entdeckte, oder verborgene Schätze in gewöhnlichen Steinen. Das Leben muss erfahren werden, nicht gelehrt, gab er seinen Schülern mit und verlegte den Unterricht dann auch gerne mal in die Natur. Während viele Szenen zwischen naiver Träumerei und poetischer Sensibilität hin und her schwanken, kippt die Stimmung oft auch ins Surreale. Wie in seinen Werken sind auch die Grenzen in Miyazawas Alltag fließend, immer wieder verliert er sich in Halluzinationen, sieht Skelette am Himmel fliegen oder seine Schwester in einem Zug vorbeifahren. Durch die Einführung der todkranken Toshi – vergleichbar zu Naoko aus Wie der Wind sich hebt – gewinnt der Anime auch eine tragische Note. Mehr noch, Kawamori gelingt es, anders als seinem berühmten Kollegen, mit Bild und Musik die entsprechenden Stellen so effektiv in Szene zu setzen, dass man tatsächlich mit den Protagonisten leidet, Spring and Chaos weh tut.

Und das, obwohl wir hier streng genommen nicht einmal Menschen sehen. Wie in Night on the Galactic Railroad von 1985, der berühmtesten Anime-Fassung eines Miyazawa-Werks, werden sämtliche Charaktere hier als zweibeinige Katzen dargestellt. Doch der emotionalen Tiefe tut das keinen Abbruch, vielmehr unterstreicht es die Stimmung, hier Teil einer ganz eigenen Welt zu sein, die real ist und doch auch wieder nicht, voller Leben, selbst im Tod.

Leider ist keiner der beiden Filme je in Deutschland erschienen, auch Goshu, der Cellist, welches 1982 von Studio-Ghibli-Mitbegründer Isao Takahata umgesetzt wurde, ist nicht (mehr) erhältlich. Im Fall von Spring and Chaos ist das besonders seltsam, da die US-Fassung seinerzeit sogar deutsche Untertitel enthielt. Wer seine Sammlung um diesen nur kaum bekannten Titel erweitern möchte, muss also wieder das Internet zur Hilfe nehmen. Wem das zuviel Aufwand ist, darf sich immerhin freuen, dass in einigen Wochen endlich der Anime Das Leben des Budori Gusko in Deutschland erscheinen soll, welcher ebenfalls auf einer Geschichte von Miyazawa basiert.



(Anzeige)

Kenji wer? In Deutschland eher weniger bekannt, gehörte der japanische Autor Miyazawa in seiner Heimat zu den meist gelesenen des 20. Jahrhunderts. Die Anime-Biographie „Spring and Chaos“ ist zwar recht kurz und optisch nur mäßig, gibt aber einen schönen Einblick in Leben und Denkweise des Künstlers, wechselt dabei von realistischen Momenten zu poetischen und sogar surrealen.
7
von 10