Ein Engel an meiner Tafel
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Ein Engel an meiner Tafel

Ein Engel an meiner Tafel
„Ein Engel an meiner Tafel“ // Deutschland-Start: 17. April 2014 (DVD/Blu-ray)

Inhalt / Kritik

„As it was becoming impossible for me to reconcile ‘this’ world and ‘that’ world, I decided to choose ‘that’ world, and one day when the Inspector was visiting my class at school I said, Excuse me, and walked from the room and the school, from ‘this’ world to ‘that’ world where I have stayed, and where I live now.”

Als Jane Campion 1993 als erste Frau überhaupt für Das Piano die Goldene Palme von Cannes gewann, schrieb die neuseeländische Regisseurin Filmgeschichte. Dabei hatte sie drei Jahre zuvor, etwas unbemerkt von der Weltöffentlichkeit, schon einmal ein Meisterwerk abgeliefert. Und auch hier stand eine außergewöhnliche Frau im Mittelpunkt: Janet Frame.

1924 als drittes von fünf Kindern eines Eisenbahnarbeiters geboren, war Frames Leben von Anfang von Armut und Schicksalsschlägen geprägt. Zwei ihrer Schwestern ertranken auf tragische Weise, ihr Bruder litt unter Epilepsie, sie selbst unter einer beinahe krankhaften Schüchternheit. Ihr einziger Ausweg war schon als Kind daher die Flucht in die Fantasie gewesen, der Ort, der ihr gehörte und wo sie dem drögen Alltag entkommen konnte. Als sie dann eines Tages für die Schule ein Gedicht verfassen muss, entdeckt sie zudem ihre Liebe zum Schreiben. Und damit ihren Wunsch, später einmal Schriftstellerin zu werden.

Doch so groß die Aufmunterung von Familie und Lehrern ist, ihr Talent auszuleben, so groß sind auch die Bedenken ihres Umfeldes. Autorin? Das ist doch kein Beruf! Dann lieber etwas Handfestes, Lehrerin zum Beispiel. Zunächst findet Frame auch Gefallen daran, der zunehmende Druck setzt ihr jedoch so zu, dass sie einen Selbstmordversuch unternimmt und später auch das Lehrerdasein an den Nagel hängt. Schizophrenie lautet die (Fehl-)Diagnose der Ärzte. Acht Jahre verbringt sie immer wieder in Nervenkliniken, muss Elektroschocks und beinahe auch eine Lobotomie über sich ergehen lassen. Erst als sie einen wichtigen Literaturpreis gewinnt, wird der Irrtum erkannt und die traumatisierte Frau darf sich endlich dem widmen, was sie die ganzen Jahre schon hatte machen wollen: das Schreiben.

Ein Leben abseits der Massen

Mit einer solchen Lebensgeschichte im Rücken ist klar, dass die Romane von Janet Frame nicht unbedingt einfach sind. Unterdrückung, Tod, Sprachlosigkeit, Wahnsinn – immer wieder drehten sich ihre Bücher um düstere Themen, die sie in zunehmend bizarrere Bilder packte. Kritiker lobten sie in höchsten Tönen, die Masse konnte mit den seltsamen Geschichten nicht ganz so viel anfangen. Es waren dann auch weniger ihre fiktionalen Werke, mit denen sie bei einem größeren Publikum ankam, sondern mit ihren drei Autobiografien „To the Is-Land“, „An Angel at my Table“ und „The Envoy From Mirror City“.

Campion behielt bei ihrer Verfilmung diese Dreiteilung bei und erzählt Frames Leben von ihrer Kindheit bis zu ihrer Rückkehr nach Neuseeland Anfang der 1960er. Dass bei einer so langen Zeitspanne selbst eine Laufzeit von zweieinhalb Stunden nicht ausreicht, kommt nicht wirklich überraschend. Anstatt sich mit einem roten Faden zurückzuhalten, ist Ein Engel an meiner Tafel sehr fragmentarisch, beschränkt sich auf das Nötigste, um die einzelnen Episoden zu verknüpfen. Bemerkenswert dabei ist, wie kurz der eigentliche Aufenthalt in den verschiedenen psychiatrischen Anstalten kommt. Andere Regisseure hätten die furchtbaren Erlebnisse während dieser acht Jahre vermutlich in den Mittelpunkt gestellt und ausgeschlachtet, Campion begnügt sich mit einigen wenigen Minuten.

Der Triumph der Vorstellungskraft

Doch diese Minuten haben es in sich. In nur wenigen Einstellungen und ohne große Worte schafft es die Regisseurin, das Grauen greifbar zu machen, so wie sich Campion insgesamt sehr auf die Wirkung ihrer Bilder verlässt – ungeschönt, aber eben auch nicht effekthascherisch. Mit Hilfe ihrer drei Hauptdarstellerinnern Kerry FoxAlexia Keogh und Karen Fergusson, die Frame in den verschiedenen Lebensabschnitten spielen, gelingt ihr so ein einfühlsames, impressionistisches Porträt von dem pausbäckigen Mädchen, das sich Freunde mit Kaugummis erkauft, bis zu einer Frau, die nach traumatischen Erfahrungen sich selbst, ihre Fähigkeiten und auch ihren Körper erst noch entdecken muss.

Für Campion und Fox war Ein Engel an meiner Tafel ein wichtiger Schritt ihrer jeweiligen Karrieren. Vor allem aber bescherte die Biografie Janet Frame einen unerwarteten, späten Ruhm. Immer wieder wurde sie für den Literaturnobelpreis gehandelt, bis sie 2004 an Leukämie verstarb. Geblieben sind ihre eigenwilligen, teils surrealen Geschichten um philosophierende Schneemänner, Menschen, die am Rand des Alphabets leben, und eine Sprache, die tot vom Himmel regnet. Aber eben auch Geschichten, die vom Kampf gegen Bevormundung handeln, gegen das Vergessen, und von einer Vorstellungskraft, die am Ende über die Zwänge triumphiert und in etwas Magisches verwandelt – so wie es auch Campion bei Ein Engel an meiner Tafel gelungen ist.

Credits

OT: „An Angel at my Table“
Land: Neuseeland
Jahr 1990
Regie: Jane Campion
Drehbuch: Laura Jones
Vorlage: Janet Frame
Musik: Don McGlashan
Kamera: Stuart Dryburgh
Besetzung: Kerry Fox, Alexia Keogh, Karen Fergusson, Iris Churn, K.J. Wilson, Melina Bernecker

Bilder

Trailer

Filmpreise

Preis Jahr Kategorie Ergebnis
Film Independent Spirit Awards 1992 Bester ausländischer Film Nominiert
Venedig 1990 Goldener Löwe Nominiert

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Ein Engel an meiner Tafel
fazit
Noch vor "Das Piano" zeigte Jane Campion, dass sie zu den vielversprechendsten Regie-Größen Neuseelands zählte. Ihr Porträt der außergewöhnlichen Schriftstellerin Janet Frame erzählt einfühlsam, aber ungeschönt von einer Frau, die erst nach einem langen Kampf ihren Platz im Leben findet.
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