Lolita lesen in Teheran
© Weltkino/Marie Gioanni/Eitan Riklis/Helene Louvart

Lolita lesen in Teheran

„Lolita lesen in Teheran“ // Deutschland-Start: 20. November 2025 (Kino)

Inhalt / Kritik

August 1979, Teheran: Literaturwissenschaftlerin Azar Nafisi (Golshifteh Farahani) kehrt mit ihrem Mann Bijan (Arash Marandi) aus den USA in ihr Heimatland Iran zurück. Nach dem Sturz des Schahs will sie die Revolution unterstützen und an der Universität Englische Literatur lehren. Die junge Dozentin begeistert ihre Studentinnen, bekommt aber schon bald Gegenwind von männlichen Kommilitonen. Angeblich „unsittliche“ literarische Figuren widerstreben der islamistisch geprägten männlichen Moral, wie etwa Jay Gatsby, der um eine verheiratete Frau wirbt. Auch außerhalb des Hörsaals überschlagen sich die Ereignisse. Selbst ernannte Tugendwächter wachen über die Herrschaft der Ayatollahs und setzen den Kopftuchzwang durch. Azar muss die Universität verlassen, gründet aber für sieben ihrer treuesten Studentinnen eine Art geheimer Privatuni bei sich im Wohnzimmer. Im Lese- und Debattierzirkel blühen Sanaz (Amir), Nassrin (Mina Kavani), Mahshid (Bahar Beihaghi) und die anderen regelrecht auf. Hier lassen sie den repressiven Alltag hinter sich, spiegeln ihr persönliches Leben und das Schicksal der iranischen Gesellschaft in fiktiven Figuren. Was Literatur, Kunst und Wissenschaft in einer Diktatur für den Erhalt der Menschlichkeit ausrichten können, untersucht der israelische Regisseur Eran Riklis in der Verfilmung des gleichnamigen Buchs von Azar Nafisi.

Ein Buch vor Gericht

Ein Hörsaal wandelt sich in eine Gerichtsverhandlung. Die junge Professorin Azar Nafisi versteht sich auf unkonventionelle Methoden. Deshalb nimmt sie den Einwurf einer Studentin, ob die Männer denn ein Tribunal gegen den Großen Gatsby von F. Scott Fitzgerald veranstalten wollten, ganz wörtlich. Die Männer spielen die Ankläger, die Frauen die Verteidiger und die Dozentin selbst das Buch, das angeklagt wird. Auf spielerische Weise versucht sie, ihre Studentinnen und Studenten in den Bann der Vorstellungskraft und in den Zauber der besseren Argumente zu ziehen. Die Idee könnte eigentlich ein zentraler Anker des Films werden. Denn genau darum geht es: Was vermag große Literatur? Und was nicht? „Gute Bücher sollen euch verunsichern und euch hinterfragen lassen, was ihr für selbstverständlich haltet“, hatte Azar ihre Schützlinge gewarnt. Doch leider reißt der Film die „Gerichtsverhandlung“ nur an und geht nicht in die Tiefe.

Denn die Buchadaption hat sich, wie ihre Vorlage, viel vorgenommen. Sie erzählt die Lebensgeschichte von Azar Nafisi über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren. Sie schildert die politischen Entwicklungen im Iran in dieser Zeit. Sie widmet sich den ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten der sieben Studentinnen. Und sie verschränkt dies alles mit vier großen Werken der Weltliteratur, die jeweils für ein Kapitel im Film stehen. Zum einen der erwähnte Gatsby, dann Lolita von Vladimir Nabokov, Daisy Miller von Henry James und Stolz und Vorurteil von Jane Austen. Komplexe Wechselbeziehungen also zwischen Realität und Fiktion, zwischen Terrorherrschaft und individuellen Schicksalen. Regisseur Eran Riklis las den 2003 erschienenen Bestseller erstmals 2009. Für ihn ist es eine universelle Geschichte über Unterdrückung und den Kampf gegen Diktaturen – heute aktueller denn je.

Denn die Literatur bietet den geschundenen und unterdrückten Frauen einen Schutzraum. Unterschiedliche Meinungen treffen auf Respekt und Anerkennung. Fiktive Identitäten und Welten zeigen Auswege aus einem bedrückenden Alltag. Sie bringen Erleichterung und ein Gefühl von Freiheit. Aber sie wirken auch zurück. Die Identifikation mit fiktivem Leben lässt auch über das eigene Schicksal neu nachdenken. Sie eröffnet bisher undenkbare Möglichkeiten, die zu Entscheidungen führen: für oder gegen das Leben mit Männern, für oder gegen die Religion, für oder gegen die Flucht ins Ausland. In jedem Fall aber: für Frauenrechte. Auch wenn die Handlung lange vor der Protestbewegung „Frau Leben, Freiheit“ spielt, erzählt sie etwas über deren Wurzeln und weist implizit auf sie hin, ohne aufdringliche Aktualisierung.

Zwischen Depression und Aufbruch

Große Stärken entfaltet der Film immer dann, wenn die Frauen unter sich sind. Die atmosphärisch starke Kamera von Hélène Louvart setzt in solchen Momenten ganz auf Großaufnahmen. In den Gesichtern erforscht sie deren komplexe Gefühle zwischen Depression und Aufbruch, zwischen Traumata und Glücksfantasien. Vieles aus dem autobiografischen Roman, was sich nicht direkt in Bilder umsetzen lässt, wird hier angedeutet oder schwingt zwischen der äußeren Handlung mit. Dazu tragen die herausragenden Darstellerinnen bei, allesamt Exil-Iranerinnen, denen das politisch äußerst relevante Filmprojekt spürbar am Herzen liegt. Sie können wohl noch besser als der Regisseur oder seine Drehbuchautorin Marjorie David die Lage der Frauen im Iran nachvollziehen: das tägliche Ringen mit Angst und Unterdrückung, die Gefahr der Verhaftung bis hin zu Folter, Vergewaltigung und Hinrichtung. Golshifteh Farahani und Zar Amiri haben Verhöre durch die Sittenpolizei selbst erlitten.

Ähnlich wie François Truffauts Fahrenheit 451 (1966) findet Lolita lesen in Teheran starke Bilder für die Widerstandskraft von Büchern gegenüber Diktaturen und die überlebenswichtige Kraft der Fantasie in einer geistfeindlichen Wirklichkeit. Aber streckenweise löst sich der 14. Spielfilm von Eran Riklis (Die syrische Braut, 2004, Lemon Tree, 2008) zu wenig von seiner Vorlage. Vieles wird nur angerissen, um das reichhaltige Material und die komplette Zeitschiene von zwei Jahrzehnten persönlichem und politischen Leben unterbringen zu können. Weniger wäre hier mehr gewesen. Trotzdem ist Lolita lesen in Teheran ein enorm wichtiger Film über die Bücher- und Geistfeindlichkeit von Gewaltherrschern oder Rechtspopulisten. Und dank seiner engagierten Darstellerinnen auch ein wuchtiges Drama über weibliche Selbstbehauptung.

Credits

OT: „Reading Lolita in Tehran“
Land: Italien, Israel
Jahr: 2024
Regie: Eran Riklis
Drehbuch: Marjorie David
Vorlage: Azar Nafisi
Musik: Jonathan Riklis
Kamera: Hélène Louvart
Besetzung: Golshifteh Farahani, Zar Amir, Mina Kavani, Sina Parvaneh, Abbas Fasaei, Reza Diako, Lara Wolf, Isabella Nefar, Ash Goldeh

Bilder

Trailer

Interview

Ihr wollt mehr über den Film erfahren? Wir hatten die Gelegenheit, uns mit Regisseur Eran Riklis zu unterhalten. Im Interview zu Lolita lesen in Teheran sprechen wir über die Rolle der Literatur in seinem Leben, die Arbeit mit den Schauspielerinnen – und Filmemachen als Form des Widerstands.

Eran Riklis [Interview]

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Lolita lesen in Teheran
fazit
„Lolita lesen in Teheran“ erzählt von der mutigen Literaturprofessorin Azar Nafisi, die sich dem Kopftuchzwang in Iran widersetzt und ihre Studentinnen heimlich bei sich im Wohnzimmer unterrichtet. Regisseur Eran Riklis findet starke Bilder für die Widerstandskraft der Literatur, löst sich aber nicht souverän genug von der komplexen Fülle seiner Vorlage.
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