Kraft der Utopie – Leben mit Le Corbusier in Chandigarh

Es liegt ein wenig in der Natur des Architektenberufs, dass er gleichzeitig sehr sichtbar und unsichtbar ist. Die entstandenen Werke sind natürlich kaum zu übersehen, zumindest wenn es um ganze Gebäude sind. Die Menschen dahinter sind jedoch überwiegend unbekannt, sofern man sich nicht explizit mit dem Thema beschäftigt. Eine der wenigen Ausnahmen, die es tatsächlich zu Ruhm gebracht haben, der über ihre Kreationen hinausgeht, ist Le Corbusier. Der schweizerisch-französische Architekt ist sicher eine der bekanntesten und schillerndsten Gestalten und hat in vielerlei Hinsicht seine Spuren hinterlassen. Das hat nicht allen gefallen, aus mehreren Gründen ist er bis heute sehr umstritten. Aber auch anerkannt, 17 seiner besonders herausragenden Bauten wurden von der UNESCO zu einem eigenen Welterbe zusammengefasst.

Auf den Spuren der Vergangenheit

Zu diesen zählt auch das Kapitol-Komplex in Chandigarh, der Regierungssitz der gemeinsamen Hauptstadt der heutigen indischen Bundesstaaten Punjab und Haryana. Wobei Le Corbusier nicht nur dieses Gebäude entworfen hat. Vielmehr geht mehr oder weniger die ganze Stadt Chandigarh auf ihn zurück. Als Indien 1947 in das heutige Indien und Pakistan aufgeteilt wurde, fiel die Stadt Lahore, bis zu dem Zeitpunkt die Hauptstadt der Region, an den Nachbarn. Dem Architekten fiel dadurch die Aufgabe zu, eine gesamte Stadt zu planen und aus dem Boden zu stampfen. Der Dokumentarfilm Kraft der Utopie – Leben mit Le Corbusier in Chandigarh nimmt uns mit auf eine Reise in diese ehemalige Planstadt, wirft einen Blick auf deren Geschichte, aber auch wie diese heute aussieht.

Le Corbusier kann dazu natürlich nicht befragt werden, der Architekt mit dem bürgerlichen Namen Charles-Édouard Jeanneret-Gris ist bereits 1965 gestorben, Chandigarh gehört zu den letzten umgesetzten Werken. An Interviews mangelt es in dem Schweizer Dokumentarfilm dennoch nicht. Das Regieduo Karin Bucher und Thomas Karrer lässt stattdessen Leute zu Wort kommen, die heute in dieser Stadt leben und ihren eigenen Blick auf die Heimat mitbringen. Kraft der Utopie – Leben mit Le Corbusier in Chandigarh befasst sich dabei einerseits mit dem Vermächtnis an sich. Da kommt ein Zeitzeuge zu Wort, auch die Direktorin des Le Corbusier Centers kann einiges zu den Gebäuden und der Entstehungsgeschichte sagen.

Ein Land im Wandel

Aber es handelt sich eben nicht um eine dieser historischen Dokus, bei denen nur an die Vergangenheit erinnert werden soll. Vielmehr steht die Frage im Raum: Was ist von dieser Vergangenheit geblieben? Kraft der Utopie – Leben mit Le Corbusier in Chandigarh beschreibt eine Stadt im Wandel, die noch immer kräftig wächst, so wie Indien insgesamt noch auf dem Vormarsch ist. Manches aus der Zeit ist gut erhalten, anderes ist ein verfallendes Relikt. Die Jahrzehnte sind nicht spurlos an dem Vorzeigeprojekt vorübergegangen. Manches passt auch nicht mehr ins heutige Indien, die Vorstellung einer Stadt, an der alle ihren Anteil haben dürfen, ist eine Utopie geblieben.

Der Film mag dabei manchmal etwas verkopft sein. Man bekommt weniger ein Gefühl dafür, was es heißt, wirklich in dieser Stadt zu leben. Da fehlt etwas die Alltagsperspektive. Interessant ist Kraft der Utopie – Leben mit Le Corbusier in Chandigarh aber durchaus. Bucher und Karrer haben hier einiges zusammengetragen, um die Augen wie auch den Kopf gleichermaßen zu beschäftigen. Die Vorstellung einer komplett geplanten Stadt ist bis heute irgendwie fremd, wirkt künstlich und unnatürlich, im Gegensatz zu den sich organisch entwickelten Städten. In Chandigarh kommt aber alles zusammen, wenn aus dem Alten etwas Neues entsteht, manches sich verbindet, anderes Fremdkörper bleiben. Wirkliche Schlüsse kann man daraus vielleicht nicht ziehen, inspirierend ist es aber schon.