An einem schönen Morgen Un beau matin One Fine Morning
Szenenbild aus Mia Hansen-Løves "An einem schönen Morgen" (© Les Films Pelleas)

Mia Hansen-Løve [Interview 2022]

An einem schönen Morgen erzählt die Geschichte der Mittdreißigern Sandra (Léa Seydoux), die nach dem Tod ihres Mannes ihr Kind alleine aufzieht und mit zwei großen Wandeln in ihrem Leben zurechtkommen muss. Zum einen ist da ihr Vater Vater Georg (Pascal Greggory), der als Professor ein Mann des Geistes war, nun aber in Folge einer neurodegenerativen Krankheit immer mehr verfällt. Aber auch ihr alter Freund Clément (Melvil Poupaud) sorgt für Chaos in ihrem Leben, als sie Gefühle für ihn entwickelt, obwohl dieser verheiratet ist. Zum Kinostart des Dramas am 8. Dezember 2022 haben wir uns mit Regisseurin und Drehbuchautorin Mia Hansen-Løve über die Arbeit an dem Film, die Notwendigkeit des Wandels und ihre Einstellung zum Alter unterhalten.

 

Könntest du uns ein wenig über den Hintergrund von An einem schönen Morgen erzählen? Wie bist du auf die Idee dafür gekommen?

Ich war durch den Dreh von Bergman Island viele Monate weg von meiner Heimat, weil ich den über zwei Sommer hinweg gedreht habe. Davor war ich für Maya in Indien. Dadurch war ich sehr lange fort gewesen. Als ich wieder zurück an meinem Schreibtisch war, hatte ich deshalb das Gefühl, dass ich einen Film über mein Leben in Paris machen müsste. Das bedeutet nicht, dass An einem schönen Morgen deshalb persönlicher ist als die anderen Filme. Alle meine Filme sind auf ihre Weise persönlich. Aber ich hatte den Wunsch, mein Leben direkter anzugehen und nach einem Sinn darin zu suchen. Als ich an dem Drehbuch saß, lebte mein Vater noch. Ich spürte aber intuitiv, dass er nicht mehr lange bei uns sein würde. Diese Gefühle bei dem Umgang mit der Krankheit, meine Trauer, das war alles noch sehr präsent. Und ich wollte versuchen, diese Gefühle in meinem Film festzuhalten.

Hattest du bei diesen persönlichen Themen jemals das Gefühl, dass sie dir zu nahe sind und du mehr Distanz brauchst?

Durch die Fiktionalisierung und die Arbeit an den Filmen entsteht bereits eine Distanz, die mir dabei hilft, mit diesen Themen umzugehen. Mich filmisch mit ihnen auseinanderzusetzen, hilft mir sogar dabei, eine Distanz zu finden, die ich anderweitig nie finden würde. Distanz bedeutet aber auch nicht, dass es mir weniger wichtig ist oder ich weniger dabei empfinde. Sie hilft mir aber, vieles klarer zu sehen. Manchmal bist du zu nah dran, gerade bei schmerzhaften Erfahrungen. Und da kann es sehr hilfreich sein, einen Schritt zurückzutreten und sich alles aus einer Entfernung heraus noch einmal anzusehen.

An einem schönen Morgen Un beau matin One Fine Morning
Ein Leben im Wandel: Die verwitwete Sandra (Léa Seydoux) muss sich um ihre Tochter Linn (Camille Leban Martins) und ihren kranken Vater Georg (Pascal Greggory) kümmern, während sie gleichzeitig eine Affäre mit dem verheirateten Clément (Melvil Poupaud) beginnt. (© Les Films Pelleas)

Du hast schon gemeint, dass du mehr über deinen Alltag erzählen wolltest. Wir sehen Sandra tatsächlich in einer Reihe ganz alltäglicher Situationen. Gleichzeitig ist die Geschichte mit dem Vater oder ihre Affäre mit einem verheirateten Mann nichts, was wir mit einem Alltag in Verbindung bringen würden. Würdest du Sandras Lebenssituation als eine gewöhnliche oder eine außergewöhnliche beschreiben?

Ich würde sie eher als gewöhnlich bezeichnen. Natürlich geschieht das nicht jeden Tag, dass zwei so einschneidende Veränderungen in deinem Leben anstehen. Aber es kommt schon vor, dass sich lange in deinem Leben gar nichts tut und dann gleich mehrere Sachen auf einmal passieren. Und das wollte ich in einem Film festhalten. Mich hat dabei auch interessiert, wie man einen solchen Lebensabschnitt filmisch umsetzen kann. Oft siehst du in Filmen, wie sie sich auf einen Aspekt im Leben konzentrieren und diesen ausführlicher beschreiben, etwa Trauer oder eine Liebesgeschichte. Dabei ist das Leben oft komplexer und du musst für dich einen Weg finden, all diese Sachen irgendwie zusammenzubringen. Wenn ich in An einem schönen Morgen von zwei parallelen Ereignissen erzähle, dann nicht aus dem Versuch heraus, damit besonders originell zu sein, sondern weil das Situationen sind, denen wir im Leben immer mal wieder begegnen. Ich suche in meinen Filmen immer nach solchen Situationen, die wir kennen, über die aber zu wenig gesprochen wird.

Wie du schon sagst, gehören Veränderungen zu unserem Leben dazu. Ist es deiner Meinung nach etwas Gutes oder etwas Schlechtes, dass nichts dauerhaft so bleibt, wie es ist?

Beides würde ich sagen. Ich hatte kürzlich eine ähnliche Diskussion mit einem Taxifahrer, der das Bedürfnis hatte, mit mir über seine Lebensgeschichte zu sprechen. Er erzählte dabei von so vielen Fällen von Krebs, die es in seinem Umfeld gab. Von der Trauer, die damit verbunden war. Und doch hat dies keine Auswirkungen auf seinen Lebenswillen, wie er überrascht festgestellt hat. So ähnlich fühle ich auch. Für mich ist es tröstlich zu wissen, dass obwohl das Leben so brutal sein kann und einem so oft Gründe für Verzweiflung liefert, es so viele verschiedene Erfahrungen mit sich bringt. Das Leben ist nie nur das eine oder das andere, sondern ändert sich ständig.

Was gibt dir persönlich Kraft, wenn das Leben gerade wieder brutal ist?

Zum einen, dass es wie gesagt ständig in Bewegung ist und es immer eine Zukunft geben wird. Es wird immer eine Zeit danach geben. Hinzu kommt, dass ich Mutter bin. Es ist glaube ich ein sehr universelles Gefühl, in solchen finsteren Momenten an deine Kinder zu denken und zu wissen, dass das Leben weitergeht. Aber selbst wenn du keine Kinder hast, kannst du Trost in dem Wissen finden, dass die Dunkelheit im Leben immer nur ein Moment ist, der vergehen wird.

In dem Zusammenhang habe ich mich gefragt: Bringt es überhaupt etwas, langfristige Pläne zu machen, wenn das Leben sowieso ganz anders verläuft und sich ständig ändert?

Gute Frage. Wie siehst du das selbst so?

Ich musste mir irgendwann eingestehen, dass von meinen langfristigen Plänen kaum etwas übrig geblieben ist. Deswegen bin ich mir selbst nicht sicher, ob das Planen sinnvoll ist oder ob man nicht versucht, aus der aktuellen Situation das Beste zu machen.

Ich denke, dass man beides machen kann. Du kannst Pläne machen und trotzdem akzeptieren, wenn es anders läuft, als du für dich erwartet hast. Das Leben ist immer für eine Überraschung gut, manchmal positiv, manchmal negativ. Bei Sandra würdest du erwarten, dass es ihr nichts bringt, auf Clément zu warten und zu hoffen, dass er seine Frau verlässt. Und doch tut er das. Daran glaube ich auch, das Leben ist so. Du weißt nicht, ob er geht oder bleibt. Du weißt nicht, ob das Leben schön sein wird oder tragisch. Es kann immer beides passieren. Du kannst Glück haben oder nicht. Was ich beschreibe, ist kein Happy End, das für immer so bleiben wird, sondern eine aktuelle Situation.

Denkst du, dass es so etwas wie ein permanentes Glück geben kann?

Nein, ich denke, dass Glück immer zeitlich begrenzt ist und wieder vorbei sein wird. Wenn das Glück permanent wäre und alles funktionieren würde, wäre das ziemlich langweilig. Deswegen müssen wir akzeptieren, dass wir Glück nicht festhalten können. Wir können nicht einmal dann konstant glücklich sein, wenn die Situation konstant ist. Unsere Gefühle können sich vom einen Tag zum nächsten wandeln, selbst wenn sich eigentlich nichts verändert hat.

Ein Wandel, den du in An einem schönen Morgen beschreibst, ist der Verfall des Vaters. Nachdem du dich mit dem Thema länger beschäftigt hast, wie ist deine Einstellung zum Älterwerden? Hast du Angst davor?

Ich habe wahnsinnige Angst davor. Das war einer der Gründe, warum ich den Film machen wollte. Gleichzeitig habe ich jetzt weniger Angst vor dem Sterben, als ich sie in meinen Zwanzigern hatte. Leben heißt zu sterben lernen, sagt man. Und ich habe inzwischen verstanden, was das bedeutet und wie viel Wahrheit in diesem Satz steckt.

Eine schöne Szene in dem Zusammenhang betrifft die Bücher des Vaters, die ihn stärker verkörpern sollen als der verfallende Körper, der nicht mehr viel mit seinem früheren Ich zu tun hat. Wenn du auf dein eigenes Leben schaust, gibt es da etwas Vergleichbares? Ist da etwas, das sagt: „Ich bin Mia.“?

Ich weiß gar nicht, ob es überhaupt bei den Menschen diese eine Persönlichkeit gibt. Beispielsweise sind wir immer etwas anders, je nachdem ob wir gerade für uns sind oder von anderen Menschen umgeben. Wir versuchen zwar, diese verschiedenen Aspekte von uns in Einklang zu bringen. Aber sie sind doch verschieden. Deswegen finde ich es schwierig, diese Frage zu beantworten, weil das dazu verführt, selbst definieren zu wollen, wer man ist. Ich würde gern sagen, dass mein wahres Ich das ist, das Filme mache oder das seine Kinder liebt. Aber das würde bedeuten, die weniger noblen Seiten von mir zu verstecken, die genauso ein Teil von mir sind. Ich möchte mir nicht anmaßen zu sagen, wer ich wirklich bin. Ich kann nur sagen, wer ich versuche zu sein. Und das ist vermutlich die Person, die Filme macht.

Vielen Dank für das Gespräch!  

Zur Person
Mia Hansen-Løve wurde am 5. Februar 1981 in Paris, Frankreich geboren. Ihre Filmkarriere begann sie als Schauspielerin in Ende August, Anfang September (1998) und Les destinées sentimentales (2000) von Olivier Assayas, mit dem sie später auch liiert war. Ihr Schauspielstudium schmiss sie jedoch wieder und begann stattdessen, Filmkritiken zu schreiben, mit dem Ziel, später selbst Filme zu drehen. Nach einer Reihe von Kurzfilmen gab sie 2007 mit Tout est pardonné ihr Spielfilmdebüt als Regisseurin und erhielt hierfür eine César-Nominierung für das beste Debüt. Nach weiteren Filmen wie Eden – Lost in Music (2014) und Alles was kommt (2016) folgte 2021 mit Bergman Island ihr englischsprachiges Debüt.



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