Tokat
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Tokat – Das Leben schlägt zurück

Tokat
„Tokat – Das Leben schlägt zurück“ // Deutschland-Start: 13. September 2018 (Kino)

Vor über 20 Jahren machten kriminelle Banden junger Türken die Straßen Frankfurts unsicher. Dabei ging es hauptsächlich um eines: Drogen. In Tokat – Das Leben schlägt zurück trifft man auf Kerem, Dönmez und Hakan, drei ehemalige Mitglieder krimineller Gangs wie den „Turkish Power Boys“. Heute lebt nur noch einer von ihnen in Deutschland, die beiden anderen wurden in die Türkei abgeschoben. In intimen Interviews reflektieren die drei Männer über ihre Vergangenheit, in der sie von Raubüberfällen und Drogenhandel bis hin zu Körperverletzung und Totschlag beinahe alle Stationen möglicher Gewaltdelikte abgeklappert haben. Über zwei Jahrzehnte später verbindet sie außer der düsteren Erinnerung beinahe nichts mehr.

Wie es in den Wald hineinruft …
Die beiden Filmemacherinnen Andrea Stevens und Cornelia Schendel lernten sich im Studium kennen. Beide stammen aus Frankfurt und Umgebung und erinnern sich noch gut an ihre Zeit als Teenager, in der jeder schon einmal von den berühmt-berüchtigten Jugendbanden gehört hatte, die auf den Straßen der Großstadt ihr Unwesen trieben. Von aktuellen Berichten über Jugendkriminalität bewegt, entschlossen sie sich, verwischte Spuren aufzuspüren und die Jungs von damals, die inzwischen Männer mittleren Alters sind, ausfindig zu machen.

Fündig wurden sie u.a. in einem türkischen Dorf am Fuße des Bergs Ararat. Dort lebt Hakan, der 1999 in die Türkei abgeschoben wurde, nachdem er mit 15 Jahren als einziges Mitglied seiner Familie, ohne Eltern oder Geschwister nach Frankfurt kam. Im Jugendzentrum, dem Treffpunkt aller Kinder, die kein richtiges Zuhause hatten, wurde er schnell Teil einer Gruppe junger Türken, die krumme Geschäfte machten. Nach dem Motto „mitgehangen, mitgefangen“ war der Traum bald Vergangenheit und er musste Deutschland gezwungenermaßen verlassen. Heute lebt Hakan in der Ruine seines Vaterhauses, ohne Ausweis, ohne Nationalität und somit ohne Möglichkeit legaler Arbeit. Sein Ex-Kollege Dönmez wurde ebenfalls ausgewiesen. Er hat eine Familie und eine Arbeit, doch träumt nach wie vor von einer Rückkehr in sein Geburtsland.

Besonders faszinierend wie erschreckend ist Kerems Geschichte. Schon als Kind, das nie lesen und schreiben lernte, setzte er sich stets mit Gewalt durch. Immer auf der Jagd nach dem nächsten High, dem nächsten großen Deal, der nächsten Schlägerei verlor er sich im Untergrund des Großstadtdschungels. Als sein Bruder eines Tages ermordet wurde, sann Kerem nach Rache. Mit einem Messer bewaffnet lauerte er dem Mörder auf, doch als er ihn nicht antraf, erstach und erschlug er im Blutrausch einen unschuldigen Passanten. Nach fast 13 Jahren Inhaftierung und unzähligen Therapien wirkt er heute ruhig, beinahe abgeklärt.

Kein Schubladendenken
In ihrem Vorhaben wagen sich die beiden Filmemacherinnen nicht nur an ein ungewöhnliches Thema, sondern auch an drei Männer, die zumindest in der Vergangenheit als höchst gefährlich galten. Es gelingt ihnen, nicht nur auf physischer, sondern vor allem auf persönlicher, wie zutiefst menschlicher Ebene den ehemaligen Bandenmitgliedern in nächster Nähe und auf Augenhöhe zu begegnen. Vorurteilen und Klischees wird in Tokat – Das Leben schlägt zurück kein Raum gegeben. Stattdessen bietet der Dokumentarfilm eine unvoreingenommene Perspektive auf das Schicksal dreier Männer, die als in der Gesellschaft verlorene Jugendliche in die falschen Kreise geraten sind. Ohne zusätzliche Erklärung oder Kommentar aus dem Off bleibt dem Zuschauer nur eines übrig: zuhören.

Dabei sind Kerem, Dönmez und Hakan keinesfalls nostalgisch; doch die Reue über ihre Taten und über das Opfer, das sie in ihrer jugendlichen Skrupellosigkeit begangen haben, ist deutlich spürbar. Die Ohrfeige, wie das türkische „tokat“ übersetzt wird, schmerzt auch noch nach Jahren. Hoffnung auf ein normales Leben hat keiner der drei Männer mehr. Der Film lehrt jedoch nicht nur über drei individuelle Schicksale, drei Gestalten, die beinahe in Vergessenheit geraten sind, sondern beweist auch einen Blick für große Zusammenhänge. Aufeinanderprallen der Kulturen, schlechte Familienverhältnisse, fehlende Zugehörigkeit, Jugendkriminalität und Bandentum sind Aspekte der Vergangenheit wie der Gegenwart.



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“Tokat - Das Leben schlägt zurück” ist eine Reise in die Vergangenheit dreier ehemaliger Bandenmitglieder, die als entwurzelte und skrupellose Jugendliche zu allem bereit waren. Über 20 Jahre später blicken die drei Männer zurück auf ihre Taten und auf die Konsequenzen, die sie jeden Tag zu spüren bekommen. Der Film urteilt nicht, sondern schafft Raum für die Geschichte der Männer und das Gehör des Zuschauers. Eine kurz gehaltene, bewegende Doku, die trotz der vielen Jahren seit den Verbrechen hochaktuell ist.