A Woman Captured

Eine gefangene Frau

„Egy nö fogságban“, Ungarn, 2017
Regie: Bernadett Tuza-Ritter; Musik: Csaba Kalotás

„Eine gefangene Frau“ // Deutschland-Start: 11. Oktober 2018 (Kino)

Eine gefangene Frau, international: A Woman Captured, begleitet Marish, eine 53-jährige Ungarin, die seit über zehn Jahren bei einer Familie lebt und dieser als Haushaltshilfe und Kindermädchen zur freien Verfügung steht, ohne bezahlt zu werden. Ihr Pass wurde ihr abgenommen und es ist ihr nicht erlaubt, das Haus ohne Absprache zu verlassen. Sie ernährt sich ausschließlich von den Essensresten der Hausherren und hat nicht einmal ein eigenes Bett. Marishs Alltag ist gezeichnet von Demütigung und Angst. Doch heimlich träumt sie davon, ihr altes Leben zurückzugewinnen. Die Präsenz der Kamera lässt sie spüren, dass sie nicht alleine ist und sie beginnt, Vertrauen zu Regisseurin Bernadett Tuza-Ritter zu entwickeln. Nach zwei gemeinsamen Jahren fast sie all ihren Mut zusammen und beschließt, der Knechtschaft zu entfliehen.

Beklemmend, Unfassbar, Persönlich
Der erste Langfilm der ungarischen Regisseurin Bernadett Tuza-Ritter verfolgt die reale Horror-Story einer Frau mittleren Alters, die in die Fänge der „modernen Sklaverei“ geraten ist. Wie man gleich zu Beginn des Films lernt, ist diese Art der Haltung von „Hausangestellten“ ein weitverbreitetes, jedoch weitestgehend unerschlossenes Gebiet, mit über einer Million Menschen in Europa. Als Marish – was, wie man im Laufe des Films erfährt, nicht ihr richtiger Name ist – über einem Foto, das kurz nach ihrer Ankunft im Haus aufgenommen wurde, erwähnt, dass sie 53 Jahre alt ist, ist man als Zuschauer für einen Moment ebenso erstaunt wie die Regisseurin: „You’ve aged quite a lot here.“

Seit über elf Jahren steht sie unter der Fuchtel der dominanten Matriarchin Eta, die stolz darauf ist, keinen Handschlag in ihrem eigenen Haushalt zu tun, sondern stattdessen diversen Angestellten mit knüppelharter Arbeit im Tausch gegen Zigaretten, Kaffee und einem Sofa als Schlafplatz den Rücken zu brechen. Zusätzlich arbeitet Marish teilzeit in einer Fabrik. Doch den Hungerlohn, den sie dort verdient, muss sie an Eta abgeben. Am Ende bleibt ihr nichts.

Unangenehme Gefühle, viele offene Fragen
In diesem klaustrophobisch alptraumhaften Dokumentarfilm hält Tuza-Ritter die Kamera so direkt und so nah auf das Subjekt, dass ihre Umgebung, wie auch die Umstände, unter welchen Marish in den Tyrannenhaushalt gelangte, zumeist im Hintergrund verschwimmen. Es wird nie ganz klar, wie und warum sie diese Last und Entwürdigung auf sich nimmt, auch wenn angedeutet wird, dass Schulden und ein ruchloser Knebelvertrag eine Rolle spielen. Die Gesichter von Eta und ihrer Familie werden nie gezeigt, was deren Schurkenhaftigkeit wunderbar unterstreicht. Man kann nicht anders, als sich zu fragen, was Eta überzeugt hat, die mit Kamera und Aufnahmegerät ausgerüstete Tuza-Ritter in ihr Haus kommen zu lassen.

Es ist nicht überraschend, dass sie eine deftige Auszahlung für die Dreharbeiten entgegengenommen hat. Andererseits scheint sie keinerlei Skrupel zu haben. Der Gedanke, dass ihre Angestellten leiden könnten, scheint ihr fremd. Schließlich bekämen sie ein Dach über dem Kopf, Nahrung und so viele Zigaretten, wie sie wollten.

Observierend < Konspirativ
Während man Marishs alltäglichen Kampf mit mentalen und körperlichen Strapazen für eine gute Stunde beobachtet, wundert man sich für einen Augenblick über den Fortgang des Films und fragt sich, wie viel schlimmer es noch werden kann. Doch dann nimmt die Geschichte insofern eine Wendung, dass sich die Rolle der Regisseurin vom passiven Beobachter abzweigt und sie eine persönliche Verbindung zur gebrochenen Marish aufbaut. „I swear, you’re the only one I trust“, schluchzt Marish in ihrer Verzweiflung und man spürt, wie wahr diese Worte sind. In einer für das Genre des Dokumentarfilms seltenen Akt der inszenatorischen Intervention, beschließt Tuza-Ritter sich einzumischen, mit dem Ziel ihrem ungewöhnlichen Schützling zur Freiheit zu verhelfen. Nachdem sie gegen Marishs Willen und zudem erfolglos die Polizei kontaktiert, schmieden sie gemeinsam einen Fluchtplan. Die filmische Umsetzung fällt dabei leicht übertrieben aus. Die wackelige Kamera und die schrille musikalische Begleitung unterbrechen den Rhythmus des Films und die gesamte Szene, trotz echtem Risiko und Anspannung, wirkt überzogen. Das soll aber Tuza-Ritters einziger ernsthafter Fehltritt bleiben.

Marish, die bis zum Moment ihres Entkommens, jede Beleidigung, jeden Seitenhieb ohne Wimpernzucken ertragen hat, bricht jetzt immer wieder zusammen, kann die Tränen nicht zurückhalten. Es macht den Eindruck, als würde sie aus einem Albtraum erwachen und sich erst jetzt über das letzte Jahrzehnt ihres Lebens bewusst werden. Als die Regisseurin sie an einer Stelle fragt, ob es sich schlecht anfühle, dass ihre Demütigung aufgenommen wird, verneint sie und sagt: „If you manage to screen it just once a few people might realize, how people shouldn’t be treating one another. That everyone deserves respect, even those who have lost everything.“

Als Zuschauer, als der man durch den intimen Blick der Kamera diese zahnlose, durch und durch ausgemergelte, und doch warme und liebenswerte Persönlichkeit im Laufe des Beitrags vom DOK.fest München 2018 ins Herz geschlossen hat, ist man wahrlich gerührt über den Wandel von Marish zu Edith, ihrem wahren Namen.



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"A Woman Captured" zeigt das ergreifende und unfassbare Schicksal einer Frau, die sich in den Klauen einer skrupellosen Sklaventreiberfamilie befindet. Mit ihrem ungewöhnlichen und vielversprechenden Debüt gelingt der Jungregisseurin Tuza-Ritter nicht nur ein berührendes Porträt, sondern vor allem ein Wachrütteln über die obskuren Zustände der "modernen Sklaverei”.