Der phantastische Planet
Teil 1: Der phantastische Planet (1973)

Der phantastische Planet

(„La Planète sauvage“ directed by René Laloux, 1973)

Der phantastische PlanetAlle guten Dinge haben mal ein Ende. Oder müssen zumindest pausieren. Nachdem unser Special zu Studio Ghibli erst einmal aussetzt, bis wieder neues Material vorliegt, ist das eine gute Gelegenheit, ein bisschen über den Tellerrand zu schauen. So gut Hayao Miyazaki, Isao Takahata und Konsorten nämlich auch sind, die Welt der Zeichentrick- bzw. Animationsfilme hat noch deutlich mehr zu bieten. Aus diesem Grund widmen wir uns in einem neuen Special jeden Freitag ganz allgemein der Kunst des animierten Bildes und präsentieren – ohne jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit oder selbstverliebte beste-Filme-aller-Zeiten-Listen – interessante Beispiele aus der ganzen Welt. Einige sind realistisch, andere völlig abgehoben, manche kindlich, witzig, vielleicht auch erschreckend düster, wurden kürzlich veröffentlicht oder sind schon Jahrzehnte alt. Sehenswert sind sie aber alle auf ihre eigene Art und Weise.

Unser erster Ausflug führt uns in eine Welt, die gleichzeitig ganz anders ist als unsere und uns vertrauter, als wir es wahrhaben wollen. Ygam nennt sich der Planet, wird von allerlei seltsamer Wesen bevölkert und auch von zwei menschenähnlichen Rassen. Da wären zu einem die majestätischen Draag: hoch gewachsen, blaue Hautfarbe, zivilisatorisch hoch entwickelt und langlebig. Ganz anders die kleinwüchsigen Oms, die in Höhlen leben, eine kurze Verweildauer haben und mit primitiven Werkzeugen hantieren müssen. Freilebend sind sie eine Plage, nicht viel mehr als Insekten in den Augen der Draags, als Haustier sorgen sie aber immer wieder für Erheiterung.

Als Terr, einer der domestizierten Oms, eines Tages entkommen kann und dabei ein wertvolles Lerngerät entwendet, wendet sich das Schicksal der unterdrückten Rasse. Nach und nach eignen sich die wilden Miniaturvarianten das Wissen ihrer großen Brüder an und machen sich auch deren Technik zu eigen. Und das keine Sekunde zu früh, denn die Draags planen, in einer großen Säuberungsaktion sämtliche Oms auszulöschen.Der phantastische Planet Szene 1

„Madness is only Open Day in the factory of the mind“, schrieb Janet Frame einmal. Und damit eine große Quelle für ganz eigene, kreative Ansichten. Während die neuseeländische Schriftstellerin (Ein Engel an meiner Tafel) ihre Erfahrungen in Psychiatrien in ihren Romanen verarbeitete, fing der französische Regisseur René Laloux gleich dort an: Seinen frühen Kurzfilm Les dents du singe, eine sonderbare Geschichte über zähneklauende Zahnärzte und einen Schimpansen als Rächer, drehte er 1960 mit den Patienten einer psychiatrischen Klinik und dem Studio von Paul Grimault (Der König und der Vogel). Und auch wenn er später seine Zusammenarbeit auf reguläre Künstler beschränkte, weniger befremdlich sind die Filme kein Stück  geworden.

Beispiel Der phantastische Planet. Den Science-Fiction-Film von 1973 setzte Laloux mit dem Künstler und Schriftsteller Roland Topor um – der ebenfalls Sonderbarem nicht abgeneigt war, wie seine Beteiligung an Marquis eindrucksvoll zeigte. Begegnete man Letzterem noch am besten mit Humor, gibt es hier nur wenig zu lachen. Da fressen groteske Tiere ihre eigenen Jungen, eine Pflanze tötet Insekten nur zum Vergnügen und die Menschen baden in dem Blut eines riesigen Vogels, nachdem sie ihn vorher abgeschlachtet haben. Kinder sollten deshalb vielleicht eher nicht mit dem Film in Berührung kommen. Brutal ist Der phantastische Planet, alternativ auch als Der wilde Planet bekannt, zwar nur selten, dank der bizarren Lebewesen oft aber verstörend, wenn nicht gar alptraumhaft.

Die starken surrealen Bilder sind der eine Grund, warum der Film auch vierzig Jahre später noch sehenswert ist. Der andere ist die Geschichte. Basierend auf dem Roman „Oms en Série“ des französischen Science-Fiction-Autors Pierre Pairault ist das Geschehen an sich sicher nicht allzu komplex. Und doch stellt Der phantastische Planet interessante Fragen zu unserem Umgang mit der Natur. Meistens sind Menschen in diesem Genre die Guten, die sich gegen feindliche Außerirdische zur Wehr setzen müssen. Dann und wann wird der Spieß umgedreht und ein Alien hat unter uns Menschen zu leiden (E.T., Ender’s Game). Hier trifft beides zu: Indem beide Seiten Menschenform annehmen, gewinnen wir einen Zugang aus beiden Perspektiven – und der ist so oder so nicht schön. Die wilden Menschlein zerfleischen sich gegenseitig, die zivilisierten Riesen sehen in der Minivariante ihr Eigentum, eine Art Spielzeug; eine kaum versteckte Kritik, wie Menschen dieser Erde auf andere Lebewesen herabblicken.Der phantastische Planet Szene 2

Einfach ist das Langfilmdebüt von Laloux daher sicher nicht. Erschwert wird der Zugang zudem durch die grafische Gestaltung. Als Standbild haben die detailarmen, farbreduzierten, schraffierten Zeichnungen, die an die legendären Einspieler von Monty Python’s Flying Circus erinnern, noch ihren Charme. Doch die Animationen sind hoffnungslos veraltet. Kaum etwas bewegt sich hier, und wenn doch, dann nur rudimentär und ruckartig. Das verstärkt natürlich den unwirklichen Charakter, den Eindruck einer richtigen, lebendigen Welt vermittelt Ygam hingegen nie.

Und auch inhaltlich hätte durchaus mehr passieren dürfen. Viele der Szenen bleiben durch ihre Fremdartigkeit im Gedächtnis, sie stehen oft aber in keinem Bezug zur eigentlichen Handlung. Hin und wieder hat man sogar den Eindruck, Der phantastische Planet verfolgt die Seltsamkeit aus reinem Selbstzweck. Gerade in der zweiten Hälfte wird die Aussage des Films doch sehr aus den Augen verloren, nur um ganz zum Schluss – etwas aufgesetzt – wieder hervorgekramt zu werden. Man muss also schon ein Faible für das Surreale haben, um dem Zeichentrickfilm heute noch etwas abgewinnen zu können. Wer das von sich behaupten kann, wird trotz der altmodischen Gestaltung inklusive passender und sehr atmosphärischer Synthesizermusik mit großen Augen vor dem Bildschirm sitzen.



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Die Technik ist veraltet, die Handlung eher dünn. Und doch ist "Der phantastische Planet" über vierzig Jahre nach dem Erscheinen noch immer ein bemerkenswerter Zeichentrickfilm mit interessanten Ideen und verstörend-surrealen Szenen.
8
von 10