Nationalhymne National Anthem
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Nationalhymne

Nationalhymne National Anthem
„Nationalhymne“ // Deutschland-Start: 27. November 2025 (Kino)

Inhalt / Kritik

Der 21-jährige Dylan (Charlie Plummer) schlägt sich im ländlichen New Mexico als Gelegenheitsarbeiter auf dem Bau durch. Das Geld braucht er, um seine Familie über Wasser zu halten, denn seine dem Alkohol zugeneigte Mutter (Robyn Lively) ist vor allem mit sich selbst beschäftigt. Für den kleinen Bruder Cassidy (Joey DeLeon) übernimmt Dylan längst die Vaterrolle, für eigene Träume bleibt kaum Raum. Das ändert sich, als er von Pepe (Rene Rosado) für die Arbeit auf der abgelegenen Ranch “House of Splendor“ engagiert wird – einem Refugium für eine queere Community, das sich wie eine Parallelwelt zur kargen Umgebung anfühlt. Dort wird der stille junge Mann, der schon auf dem Bau nicht in den vulgären “Pussy Talk“ seiner Kollegen einstimmte, überraschend vorbehaltlos aufgenommen. Dylan verliebt sich in die Transfrau Sky (Eve Lindley), die in einer offenen Beziehung mit Pepe lebt, und beginnt im Schutz dieser Gemeinschaft, seine eigenen Wünsche und Identitäten zu ertasten. Ein erster Besuch bei einem queeren Rodeo wirkt wie ein Initiationsritus – und zugleich wie ein Gegenentwurf zum vertrauten, heteronormativen Mythos des amerikanischen Westens.

Fotografische Wurzeln

Regisseur Luke Gilford, in Colorado aufgewachsen und von klein auf mit der Rodeo-Kultur vertraut, näherte sich diesem Milieu zunächst als Bildkünstler. Bevor Nationalhymne zum Film wurde, entstand 2020 sein Fotoband National Anthem, der die queere Rodeo-Szene der International Gay Rodeo Association dokumentierte. Diese fotografische Herkunft ist in jeder Einstellung des Films spürbar. Gemeinsam mit Kamerafrau Katelin Arizmendi komponiert Gilford Bilder, die weniger gefilmt als kuratiert wirken: staubige Weiten, die in goldenes Licht getauchten Körper, intime Portraits, die sich mühelos als gerahmte Prints an der Wand vorstellen lassen. Gleichzeitig meldet sich Gilfords Vergangenheit als Musikvideo-Regisseur – er arbeitete unter anderem für Kesha und Christina Aguilera – in den sorgfältig choreographierten, von verschiedenen Songs und Nick Uratas Score getragenen Musiksequenzen zu Wort.

Erzählerisch hingegen gibt sich Nationalhymne betont schlicht. Im Kern handelt es sich um ein Coming-of-Age-Drama, dessen Grundbewegung man in einem Satz zusammenfassen könnte: Ein junger Mensch verliebt sich zum ersten Mal und findet über diese Erfahrung zu einer klareren Vorstellung der eigenen Identität. Solche Geschichten hat das Kino in sämtlichen Gender- und Beziehungsvarianten vielfach erzählt – von klassischen Coming-of-Age-Filmen bis hin zu queeren Erzählungen wie Call Me by Your Name. Überraschungen bleiben hier rar. Die Frage ist daher weniger, was erzählt wird, sondern wie glaubhaft die Entwicklung der Hauptfigur wirkt.

Und genau hier überzeugen die Darsteller:innen, allen voran Charlie Plummer, der bereits in einigen Produktionen als vielversprechender Nachwuchsschauspieler auffiel, zuletzt in The Long Walk: Todesmarsch. Plummer zeichnet mit feiner Körpersprache den Weg vom in sich gekehrten, unsicheren Jungen hin zu einer zunehmend offenen, sich ihrer selbst bewussten Person. Eve Lindley verleiht Sky eine Präsenz, die weit über die bloße Markierung „trans“ hinausgeht – sie spielt eine komplexe, zärtliche und zugleich verletzliche Figur, deren Begehren und Zweifel den Film entscheidend erden. Auch die Nebenrollen sind sorgfältig besetzt: Vor allem Mason Alexander Park, einigen vielleicht als Desire aus der Netflix-Serie Sandman bekannt, gestaltet Carrie zur Schlüsselfigur in Dylans Entwicklung, ohne je in die Rolle der Märchenfee abzurutschen.

Gesellschaftlicher Gegenentwurf

Eine der größten Stärken des Films ist zugleich sein heikelstes Versprechen: die Darstellung der queeren Community auf der Ranch und beim Rodeo als solidarische, lebensfrohe, geradezu utopische Gemeinschaft. Gilford entwirft damit bewusst einen Gegenentwurf zu den tragischen, von Gewalt und Selbstverleugnung gezeichneten Geschichten, die das queere Kino des amerikanischen Westens geprägt haben – allen voran Ang Lees Brokeback Mountain. Das “House of Splendor” ist kein Schauplatz des heimlichen Leidens, sondern ein Möglichkeitsraum, in dem sich Identitäten entfalten dürfen. Die amerikanische Flagge erscheint wiederkehrend im Bild – und zwar nicht als Symbol dumpfen Nationalismus, sondern als Versuch, Patriotismus für queere Lebensentwürfe zurückzuerobern und ihn gegen das Pathos der MAGA-Bewegung zu behaupten.

Das ist eine schöne, ja notwendige Idee. Allerdings wirkt Gilfords Vision mitunter allzu glattgebügelt. Homophobie, Gewalt oder strukturelle Ausgrenzung treten nur in leisen Andeutungen auf: ein schiefer Blick im Supermarkt, ein kurzer, heftiger Konflikt zwischen Dylan und seiner Mutter. Im Angesicht der realen Lage queerer Menschen in ländlich geprägten Regionen der USA wirkt diese Heile-Welt-Perspektive zumindest fragil. Vielleicht liegt das auch daran, dass Nationalhymne bereits 2023 auf dem South by Southwest Festival Premiere feierte, also vor der erneuten Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten – man darf sich fragen, ob Gilford denselben Grad an Optimismus heute noch wählen würde.

Überhaupt werden Konflikte in Nationalhymne eher klein gehalten – oder zumindest schnell befriedet. Die zerrüttete Beziehung zwischen Dylan und seiner Mutter findet nach einem eskalierenden Streit, der Dylan und seinen Bruder Cassidy zunächst aus dem gemeinsamen Haus treibt, eine fast überraschend unkomplizierte Annäherung. Pepe, anfangs als charismatischer, beinahe patriarchaler Gastgeber der Ranch und als Dylans Verbündeter inszeniert, rückt zunehmend an den Rand des Films, je größer seine Eifersucht auf die sich vertiefende Beziehung zwischen Dylan und Sky wird. Dramaturgisch wirkt das, als schiebe der Film potenziell schmerzhafte Verwerfungen beiseite, um den utopischen Kern seiner Gemeinschaft nicht allzu sehr zu beschädigen.

Am Ende bleibt so das Gefühl, einer außergewöhnlich schönen, vielleicht etwas zu glatt idealisierten Welt beigewohnt zu haben. Doch gerade darin liegt auch ein Reiz: In Zeiten, in denen queere Rechte weltweit wieder zur Disposition stehen, muss man Gilfords Film nicht vorwerfen, dass er sich für eine Utopie entscheidet. Man kann ihn vielmehr als zart leuchtende Skizze einer möglichen besseren Welt lesen – mit allen Vereinfachungen, die eine solche Skizze mit sich bringt. Nationalhymne ist damit kein revolutionäres Meisterwerk, aber ein in seinen Bildern betörender, politisch sanft, emotional aber umso deutlicher argumentierender Beitrag zum queeren amerikanischen Kino.

Credits

OT: „National Anthem“
Land: USA
Jahr: 2023
Regie: Luke Gilford
Buch: David Largman, Kevin Best, Luke Gilford
Musik: Nick Urata, Perfume Genius
Kamera: Katelin Arizmendi
Besetzung: Charlie Plummer, Eve Lindley, Rene Rosado, Mason Alexander Park, Robyn Lively, Joey DeLeon, Lee Knight

Bilder

Trailer

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Nationalhymne
fazit
“Nationalhymne” ist ein poetisch fotografiertes, zärtlich gespieltes queeres Coming-of-Age-Drama, das zwar visuell begeistert, erzählerisch jedoch konventionell bleibt und Konflikte weichzeichnet. Eine utopische, vielleicht zu idealisierte Vision – aber eine, die man gerade jetzt gut gebrauchen kann.
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