Bei der schieren Masse an Bildern, die uns jeden Tag begegnen, fällt nicht auf, welchen Gesetzen deren Komposition folgt. 2017 erhielt die Regisseurin Nina Menkes wegen ihres Vortrags „Sex and Power: The Visual Language of Cinema“ sehr viel Beachtung, weil sie anhand von Laura Mulveys Theorie des „male gaze“ (männlicher Blick) zeigte, dass die „Objektifizierung von Frauen das Fundament des Hollywood-Bildaufbaus“ ist. Diese Haltung spiegelt zudem die realen Verhältnisse innerhalb der Filmindustrie – nicht nur von Hollywood – wider, denn Regisseurinnen und ihre Werke spielen leider nach wie vor nur die zweite Geige.
Die Karriere der ukrainischen Regisseurin Kira Muratova (Kurze Begegnungen, Langer Abschied) ist ein Beispiel für diese ungleiche Behandlung, denn obwohl ihre Filme auf Festivals ähnlich gepriesen wurden wie die ihrer männlichen Kollegen, ist ihr Werk weitaus weniger bekannt als das von Andrei Tarkowski oder Michail Kalatosow. Von ihr stammt auch der Satz, Frauen würden sehr viel härtere Filme machen als ihre männlichen Kollegen, was Filmemacherin Isa Willinger sehr beeindruckte. Ihre Dokumentation No Mercy, die aktuell auf dem Filmfest Hamburg zu sehen ist, basiert auf Muratovas These, geht aber nicht nur deren Richtigkeit nach, sondern auch der Frage, was überhaupt mit „Härte“ gemeint sein könnte. Um Antworten zu finden unterhält sie sich mit zahlreichen Filmemacherinnen, unter anderem Céline Sciamma, Ana Lily Amirpour, Alice Diop sowie der bereits erwähnten Nina Menkes. Entstanden ist dabei eine Dokumentation, die in Verbindung mit Menkes’ Vortrag als die Suche nach einer neuen Bildsprache verstanden werden kann, die nicht nur als eine Distanzierung der etablierten zu verstehen ist. Willinger sucht gemeinsam mit ihren Gesprächspartnern nach Bildern, die Machtverhältnisse sichtbar machen, ohne sie zu reproduzieren.
Das Patriarchat auf der Leinwand
Ein Hauptelement in Muratovas Werk ist die Dekonstruktion von Machtverhältnisse, insbesondere aber von Geschlechterbildern. Dies brachte sie mehr als einmal in Konflikt mit der sowjetischen Zensur, die sie mit Berufsverbot bestrafte, sodass die Regisseurin nach Mittel und Wegen suchen musste, ihre Filme außer Landes und damit auf Filmfestivals zu „schmuggeln“. In ihrem Buch Kira Muratova: Kino und Subversion schreibt Willinger, dass Kurze Begegnungen oder Langer Abschied durch das Abbilden und Parodieren von Geschlechterrollen, den „performativen Status des Natürlichen“ selbst enthüllen. Sciamma, Amirpour und Diop sind nur drei Beispiele für moderne Regisseurinnen, deren Bilder solche Strukturen entlarven, parodieren und sich von ihnen emanzipieren. Willinger zeigt anhand vieler Beispiele aus Filmen wie Porträt einer jungen Frau in Flammen oder Saint Omer, wie diese neue Bildsprache aussehen kann und wie sie Hierarchien unserer Welt aus einem für das Kino nach wie vor ungewohnten Blickwinkel zeigt. Dennoch steht nicht im Vordergrund, dass es sich um den „Film einer Frau“ handelt, denn die erwähnten Beispiele stehen für ein Kino, das sich nicht über den Aspekt Geschlecht definiert. Vielmehr stehen Punkte wie die Geschichte, die Figuren und die Themen im Vordergrund, wie es eigentlich auch sein sollte.
Besonders bemerkenswert an No Mercy ist, dass die Dokumentation den Blick des Zuschauers in vielerlei Hinsicht erweitert. Indem Willinger mit Regisseurinnen wie Monika Treut, Joey Soloway oder Margit Czenki spricht, macht sie aufmerksam auf Filme, die abseits von Festivals nur wenige Menschen gesehen haben, sich aber ebenfalls gegen die Konventionen der Filmsprache zur Wehr setzen. Abgerundet wird die Dokumentation durch einen Blick auf Filmfestivals und inwiefern Cannes oder Venedig Regisseurinnen mit in ihr Programm aufgenommen haben.
OT: „No Mercy“
Land: Deutschland, Österreich
Jahr: 2025
Regie: Isa Willinger
Drehbuch: Isa Willinger
Musik: Brii Bauer, Jeschka Oszilat
Kamera: Bernadette Paaßen, Siri Klug, Doro Götz
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