Szenenbild aus "Das tiefste Blau" von Gabriel Mascaro (© Guillermo Garza Desvia - Alamode Film)

Gabriel Mascaro [Interview]

Das tiefste Blau (Gewinner des Silbernen Bären bei der Berlinale 2025) zeigt uns eine dystopische Zukunft in Brasilien, in der Menschen nach dem Eintritt ins Rentenalter in eine Seniorenkolonie zwangsumgesiedelt werden müssen. Doch Teresa (Denise Weinberg) möchte sich nicht mit diesem vermeintlichen Schicksal abfinden und flieht ins Amazonasgebiet. Dort kommt sie mit verschiedenen Weggefährten (Rodrigo Santoro, Miriam Socarrás) in Kontakt und findet sich in ihrer späten Lebensphase noch einmal neu. Zum deutschen Kinostart am 25. September 2025 haben wir mit Regisseur Gabriel Mascaro über das Älterwerden, den Dreh im Amazonas und Schneckenschleim gesprochen…

Was hat dich an diesem Projekt am meisten gereizt, beziehungsweise wie kam dir die Idee für das Drehbuch?

Das Projekt entstand, als meine Großmutter kurz nach dem Tod meines Großvaters zu malen begann. Und als die ganze Familie dachte, sie würde sich schlecht fühlen, traurig und deprimiert sein, erlebte sie eine Renaissance. So ist das Leben, in diesem Alter. Heute ist sie 97 Jahre alt. Aber es war sehr schön, diese Veränderung in ihr zu sehen, dieses Erwachen zu einem neuen Leben. Ich denke, das hat mich dazu inspiriert, diese ältere Figur aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Ich begann, Filme zu diesem Thema zu recherchieren, und es ist sehr selten, dass ältere Menschen die Hauptfiguren in Filmen sind, oder? In der Regel sind es Figuren, die mit Konflikten rund um den Tod zu kämpfen haben. Der Körper ist krank. Wie in dem Film von Michael Haneke, Liebe. Das ist ein großartiger Film, aber er handelt von der Endlichkeit des Lebens. Es geht um die Vergangenheit und um diesen Körper und die Nostalgie für das, was vergangen ist. Diese glorreichen Zeiten, die nie wiederkehren. Und um einen Körper, der schon alles gegeben hat, was er zu geben hatte.

Und ich wollte einen anderen Film machen. Ich wollte einen Film machen, der sich mit der Gegenwart befasst. Über eine ältere Frau, die sich nach Freiheit sehnt, die pulsiert und die frei sein will, die ihr Leben neu schreiben will. Es war also sehr schön, diese Figur so betrachten zu können, wie ich meine Großmutter ein wenig betrachte, und ich begann, eine Fiktion zu erschaffen, eine Allegorie, einen Film, der diese Absurdität vermischt. Es ist ein spielerischer Film in dem Sinne, dass er Genres vermischt. Er vermischt Dystopie und Coming-of-Age…

…und Roadmovie…

…Roadmovie! Alles Genres, die mit dem jungen Körper in Verbindung stehen.

Das ist also deine persönliche Erfahrung mit diesem Thema. Mich würde auch interessieren, wie Brasilien deiner Meinung nach mit dem Thema der alternden Gesellschaft im Allgemeinen umgeht?

Ich denke, dass Brasilien, wie viele christliche Länder, auf einzigartige Weise mit dem Älterwerden umgeht. Es gibt dort keine Altenheime wie in Europa, wo das ganz normal ist. In Brasilien leben ältere Menschen weiterhin bei ihren Familien, aber sie werden auch zu einer Belastung für die Familie, die kein Einkommen und kaum Mittel hat. Man hat Schwierigkeiten, sich um diesen alten Körper in der Gesellschaft zu kümmern.

Am Ende ist der Film also auch eine Allegorie. Ein Blick auf Brasilien, in dem Moment, in dem es einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt und ein Projekt ins Leben ruft, um diese alten Menschen aus ihren Häusern zu holen, damit die jungen Menschen mehr produzieren können. Und sie erhalten eine finanzielle Entschädigung. Das heißt, wir haben es mit einem autokratischen Staat zu tun, der sich aber auch als Sozialstaat tarnt. Ein Sozialstaat, in dem wir keine Polizei auf der Straße sehen wie in dystopischen Filmen, sondern verdeckte Gewalt. Und jeder wird zum Denunzianten des anderen. Der Staat überträgt die Überwachungsmacht an normale Bürger und ältere Menschen müssen fliehen. Tatsächlich ist es kein realistischer Film. Es ist ein absurder Film, der mit dieser alten Frau beginnt, die vor der Kamera Ballett tanzt. Gleichzeitig ist es ein Film, in dem alles wahr sein könnte. Es ist also ein Film, der uns eine sehr verwirrende Beziehung vermittelt, er ist Fiktion, er ist absurd. Aber alles dort könnte wahr sein. Vor allem in Brasilien.

Du hast bereits kurz über Religion gesprochen, und ich würde gerne wissen, inwieweit dich diesmal Religion, aber auch die Zerstörung der Umwelt beschäftigt haben? Schließlich sind dies wiederkehrende Themen in deiner Filmografie…

Ja, ich wollte auch über den Amazonas sprechen, aber ich wollte nicht in die idealisierte Vorstellung vom Amazonas verfallen, wie er normalerweise in Fernsehdokumentationen dargestellt wird, verstehst du? Ich wollte einen anderen Amazonas zeigen, den mythischen Amazonas. Utopisch. Der Freiheit inspiriert, der Träume inspiriert. Das ist auch ein Amazonas. In diesem Fluss kann man sich verlieren und man kann sich auch wiederfinden. In diesem gewundenen Fluss, diesem Fluss mit vielen Kurven. Und ich glaube, der Film spielt auch ein wenig mit uns. Er beginnt mit diesem Alligator-Kühlhaus. Einer Fertigungsstraße. Wenn wir an Alligatoren und den Amazonas denken, denken wir an ein freies Tier. In der Idylle des unberührten Amazonas. Und dann beginnt der Film mit einer Alligator-Fertigungsstraße, als wären es Rinder. Der Film provoziert also schon eine Dystopie, nicht wegen der fliegenden Autos, nicht wegen der Technologie, sondern wegen der Veränderung der Erwartungen an den Amazonas, nicht wahr? Der Film versucht also, mit anderen Bildern zu spielen, die er in eine dystopische Welt einbringt, aber in eine Dystopie über disruptive Technologien und kulturelle Veränderungen, die diesen Unsinn normalisieren.

Wie haben du und dein Team die Dreharbeiten in dieser Region des Amazonas erlebt? Was waren unerwartete Erfahrungen oder Schwierigkeiten? Was ist euch dabei besonders in Erinnerung geblieben?

Es war ein sehr, sehr, sehr schwieriges Projekt. Aber gleichzeitig auch schön. Wir haben uns bemüht, uns an Leute zu wenden, die viel Erfahrung mit Dreharbeiten im Amazonasgebiet haben. Denn es ist nicht einfach. Es gibt eine ganz eigene Logik, wenn man im Inneren des Flusses dreht. Es gab so viele Boote, ich konnte mir nicht mal ein Roadmovie vorstellen. Also haben wir uns auf das lokale Produktionsteam verlassen. Es waren mehr als 20 Schauspieler und Schauspielerinnen aus dem Amazonasgebiet dabei. Das hilft auch dabei, einen Film zu drehen, der mehr mit dem Kino des Amazonasgebiets, der Region Amazonas, Manaus, verbunden ist. Wir haben also viel gelernt. Wie ist es, in einem Boot zu drehen, was seine Besonderheiten hat… Nun, wenigstens hatten wir nicht so große Schwierigkeiten wie bei Fitzcarraldo. (lacht)

Du hast schon gesagt, dass die Atmosphäre sehr surreal ist. Es scheint nicht unsere normale Welt zu sein. Es gibt auch wirklich schöne Bilder in dem Film, und eines davon hat mich besonders beeindruckt. Das war die Szene mit dem Kampf der Fische am Ende. Aus rein technischer Sicht würde mich interessieren, wie ihr das gemacht habt.

Tatsächlich gibt es in dem Film mehrere Situationen, die Spezialeffekte sind, aber real wirken. Und die Fische sind eine Mischung aus Filmaufnahmen und Spezialeffekten. Und die Reifen! Die Reifen im Amazonasgebiet sind ebenfalls mittels Spezialeffekten eingefügt worden. Und es ist sehr lustig: Ich habe den Film Präsident Lula [Luiz Inácio Lula da Silva, aktuelles Regierungsoberhaupt Brasiliens] in seinem Haus gezeigt. Er hat mich eingeladen. Nach dem Preis in Berlin hat er mich eingeladen, den Film in seinem Haus anzuschauen. Und er hat den Leiter der COP 30 [UN-Klimakonferenz 2025] eingeladen, die in Belém stattfinden wird, eine wichtige Veranstaltung zum Thema Klimawandel. Die ganze Welt wird jetzt in Brasilien sein, um über Fragen nachzudenken, die den Klimawandel und den Umweltschutz betreffen. Und da wurde der Typ von der COP 30 nervös: „Wo liegen diese Reifen und muss ich die wegmachen?“ (lacht)

Und wie würdest Du die Zusammenarbeit mit Denise Weinberg und Rodrigo Santoro beschreiben? Was kannst du Positives über die Zusammenarbeit mit ihnen sagen, wie war die Beziehung zwischen euch?

Die war tatsächlich etwas ganz Besonderes. Der Film begann mit der Herausforderung, eine Schauspielerin zu finden, die die Anforderungen erfüllt und über dieses Thema sprechen kann. In Brasilien gibt es, wie du vielleicht weißt, einen großen Druck durch die Schönheitsindustrie auf Frauen. Stell Dir vor, unter welchem Druck die erste Generation älterer Frauen, Schauspielerinnen, im brasilianischen Fernsehen stand. Es war also sehr schwierig, eine Frau zu finden, die keine Gesichtsbehandlungen hatte, um ihr Alter zu verbergen. Und glücklicherweise habe ich diese großartige Schauspielerin gefunden, Denise Weinberg, die in Bezug auf ihr Älterwerden, das Stolz-Sein auf ihre Falten, sehr selbstbewusst und selbstsicher ist. Sie ist also eine Schauspielerin, die die Reflexion durchlebt, die Teresa irgendwann auch durchleben wird. Es war also eine sehr schöne Begegnung.

Und Rodrigo Santoro war auch eine super Wahl. In Brasilien ist er eine Ikone, ein Frauenschwarm und hat auch viele Hollywood-Filme gedreht, darunter Tatsächlich… Liebe. Seit er einen meiner Filme, Neon Bull, gesehen hatte, äußerte er den Wunsch, einen Film mit mir zu drehen: „Gabriel, wenn du eine einzigartige Rolle hast, ruf mich an“, und endlich hatte ich eine einzigartige Rolle für ihn. Und es war sehr schön, diesen Austausch zu sehen, zwischen Denise und Rodrigo. Und nicht zu vergessen unsere Schauspielerin Miriam Socarrás, die Roberta spielt. Sie ist eine Schauspielerin aus Kuba, 85 Jahre alt, die gelernt hat, ein echtes Boot auf dem Amazonas zu steuern. Es war eine sehr schöne Erfahrung, diese beiden Frauen zusammen zu sehen, wie sie schauspielern. Bei den Vorbereitungen spürten wir schon die Kraft, die der Film haben würde, als sie bei den Vorbereitungen zusammenkamen. Es war so kraftvoll.

Nur mal so zum Spaß: Würdest du den blauen Schneckenschleim nutzen, um einen Blick in die Zukunft zu werfen?

Es war wirklich schön, eine Dystopie zu erschaffen, die aber einen ganz eigenen Charakter hatte, eine tropische Dystopie. Die tropische Dystopie durfte das tropische Element nicht außer Acht lassen, auch nicht das Element des Amazonas-Zaubers. Es war also sehr cool, dieses Element zu schaffen und sich auch vorzustellen, dass die Schauspieler sich ausdenken mussten, wie sich dieser Trip anfühlt, denn es ist nicht etwas, das man einfach so konsumiert, man nimmt es, probiert es aus, sie mussten sich von Grund auf neu ausdenken, wie sich diese Wirkung anfühlt. Es hat also viel Spaß gemacht, während des Prozesses auch das Schauspiel für eine neue psychotrope Substanz zu erfinden.



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