Anlässlich des Kinostarts von Blindgänger am 29. Mai 2025 hatten wir die Gelegenheit, mit Regisseurin Kerstin Polte über ihren neuen Film und ihr filmisches Arbeiten zu sprechen. Das fein beobachtete Drama feierte im vergangenen Jahr seine Premiere beim Filmfest Hamburg und erzählt von einer Weltkriegsbombe, die mitten im Hamburger Schanzenviertel gefunden wird – und von den sichtbaren wie unsichtbaren Erschütterungen, die diese auslöst. Im Gespräch berichtet Polte, wie aus einer Radiomeldung die Idee für den Film entstand, wie sie mit ihrem Team arbeitet, warum sie multiperspektivisches Erzählen liebt – und was es für sie bedeutet, Haltung im Kino zu zeigen.
Wie kam es zu der Idee zu Blindgänger? Gab es einen Auslöser oder war es ein längerer Prozess?
Es war beides – ein längerer Prozess, aber es gab auch einen bestimmten Moment. Ich habe mich eine Weile mit transgenerationalen Traumata beschäftigt. Da gab es auch in meiner eigenen Familiengeschichte einiges aufzudecken. Ich habe mich dem Ganzen dabei eher dokumentarisch genähert – war also schon im Thema drin. Erste Ideen für den Film hatte ich bereits vor sieben, acht Jahren, also zu einer Zeit, als das Thema der Vererbung von Traumata gerade erst aufkam. Heute ist das zum Glück ein wenig präsenter.
Ein Schlüsselmoment war dann eine Radiomeldung: In Berlin, wo ich lebe, sollte wieder einmal eine Weltkriegsbombe entschärft werden. Eigentlich ist man dann erst einmal genervt, dass die S-Bahn nicht fährt, und macht sich gar nicht klar, was das wirklich heißt. Diesmal musste dafür ein Senior*innenheim evakuiert werden und ich dachte: Wie absurd. Menschen, die den Krieg erlebt haben, werden Jahrzehnte später noch einmal mit einer Bombe aus eben diesem Krieg konfrontiert.
Gleichzeitig hatte man damals zur Zeit der sogenannten Flüchtlingskrise oft das Gefühl, dass die Kriege räumlich und zeitlich sooo weit weg von uns sind. Gleichzeitig leben wir noch auf einer Viertelmillionen Blindgängern aus dem letzten Krieg. All diese Zutaten habe ich vermengt und hatte das erste Bild für einen Film, der genau das verhandelt: Die Bombe wurde zur Metapher – die großen, gesellschaftlichen Bomben und das Vermächtnis dieses Krieges zu entschärfen, aber es gibt eben auch die vielen kleinen Bomben, die ebenfalls entschärft werden müssten.
Die Geschichte der Mutter, die im Haus bleibt, und ihrer Tochter, die Bombenentschärferin geworden ist und zusätzlich zur Weltkriegsbombe auch noch die „Bombe“ der Mutter entschärfen muss, entwickelte sich als Kern der Geschichte dann recht schnell. Ich habe begonnen zu recherchieren, war beim Kampfmittelräumdienst in Hamburg, um zu erfahren, was es überhaupt heißt, Bomben zu entschärfen. Und je tiefer ich in dieses Thema hineingetaucht bin, desto interessanter fand ich es.
Du hast dich dann entschieden, den Film multiperspektivisch zu erzählen. War das von Anfang an klar?
Ich mag Ensemblestücke, wie beispielsweise L.A. Crash, schon immer. Jede Nebenfigur ist ja auch streng genommen immer die Hauptfigur ihres eigenen Lebens. Ich habe daher auch bei meinen früheren Werken versucht, immer die Figuren komplett zu denken. Außerdem glaube ich, wir brauchen heute mehr denn je Geschichten, die mehrere Perspektiven zulassen und nicht nur eine Hauptperspektive – gerade wenn es um gesellschaftliche Themen geht.
Ich hatte also einen klaren Spannungsrahmen vom Fund der Bombe bis zur Entschärfung. Ich wollte aber auch davon erzählen, was parallel alles passiert während dieser Zeit, wie der Ausnahmezustand der Evakuierung beispielsweise verschiedene Leben betrifft. Quasi die Komplexität unseres Lebens und das nebeneinander verschiedenster Emotionen erlebbar machen. Blindgänger soll ein Querschnitt sein, ein Mosaik aus Biografien, Herkunftsgeschichten, Altersgruppen. Es geht nicht nur um „die eine Bombe“ aus dem Zweiten Weltkrieg. Es geht um viele kleine Bomben, die überall in uns und um uns herum liegen. Das wollte ich zeigen – eine Momentaufnahme, dicht, emotional, die Spitze des Eisbergs, nicht vollends auserzählt.
Wie hast du das Ensemble zusammengestellt? Waren bestimmte Schauspieler*innen früh im Kopf?
Es war schon sehr schnell klar, dass die Geschichte in Hamburg spielt. Ich habe eine Zeit lang dort gelebt, ich mag den nordischen Humor, den Hamburger Hafen als Tor zur Welt – und ich mag das Schanzenviertel, wo auf engem Raum viele unterschiedliche Menschen und Biografien aufeinandertreffen. Und wenn man an Hamburg und an eine ältere Schauspielerin denkt, kommt man nicht an der fantastischen Barbara Nüsse vorbei. Sie hat für die Rolle der Mutter auch direkt zugesagt.
Anne Ratte-Polle als Tochter und Haley Louise Jones als Psychologin haben wir anschließend in Konstellation dann gecastet. Ich bin ein Fan davon, Ensembles wie ein Puzzle, nach und nach zu besetzen. Mutter und Tochter waren das Kernstück. Da haben wir drumherum weitergebaut und geschaut, wer noch dazu passt. Wir wollten unbedingt eine Mischung aus erfahrenen Spieler*innen und Menschen, die man vielleicht noch nicht so oft gesehen hat. Ivar Wafaei hatte zum Beispiel noch keinerlei Filmerfahrung oder Schauspiel-Ausbildung, er ist eine tolle Entdeckung unserer Casterin Marion Haack.
Bernhard Schütz war ein Glücksgriff, und auch Karl Markovics war sehr schnell klar für die Rolle des Viktor. Mit Claudia Michelsen hatte ich vorher einen Fernsehfilm gemacht, mit der wollte ich wahnsinnig gern fürs Kino weiterarbeiten. Auch mit Thelma Buabeng und Daniel Sträßer habe ich schon gearbeitet. Das sind Menschen, die ich als Teil meiner Filmfamilie bezeichnen würde – mit denen ich einfach wahnsinnig gerne arbeite und eine Vertrauensbasis habe.
Was mich sehr gefreut hat: Obwohl wir mit einem sehr kleinen Budget gearbeitet haben – Einheitsgage für alle – gab es kaum Absagen, nur einmal aus Zeitgründen. Viele Schauspieler*innen waren früh dabei. Mit Lukas von Horbatschewsky habe ich zum Beispiel schon drei Jahre vor dem Dreh seine Figur entwickelt. Wir haben mit allen intensiv geprobt, gemeinsam an den Figuren gearbeitet und sogar Szenen umgeschrieben. Wir hatten zwar kein Geld, aber dafür die Freiheit, miteinander etwas zu kreieren.
Auch hinter der Kamera arbeitest du oft mit denselben Leuten. Warum?
Wir hatten wenig Geld, aber trotzdem einen gewissen Anspruch an die Visualität. Es geht um eine Evakuierung, eine Bombenentschärfung, das braucht auch „große“ Bilder. Gerade in einem solchen Rahmen ist es natürlich wahnsinnig hilfreich, mit Leuten zu arbeiten, mit denen man sich quasi blind versteht, weil der Reibungs- und Energieverlust gleich null ist. Das ist bei meiner Kamerafrau Katharina Bühler und auch bei meiner Kostümbildnerin Tanja Liebermann gegeben.
Später beim Schnitt oder bei der Musik hat man dann mehr Zeit, doch mit Editorin Julia Wiedwald oder den Komponisten Daniel Hobi und Ephrem Lüchinger verbindet mich ebenfalls eine lange Zusammenarbeit. Da kann man dann einiges ausprobieren, weil wir schon eine geschmackliche Grundlage haben und uns vertrauen.
Andererseits bin ich auch ein großer Fan davon, mit neuen Menschen zu arbeiten, die Mischung macht es – diesmal etwa beim Szenenbild und Maskenbild, wo wir mit ganz tollen Leuten aus Hamburg gearbeitet haben. Aber wenn alle Departments neu sind, wäre das für mich wahrscheinlich zu viel. Man muss dann erst einmal herausfinden, ob man wirklich das Gleiche will, auch wenn man sich mag. Das braucht Energie und Zeit.
Wenn ich weiß: Um Kamera, Kostüme etc. brauche ich mich nicht zu sorgen, dann kann ich mich voll in andere Departments reinbegeben. Ich lerne also gerne neue Menschen in Arbeitsprozessen kennen – nur nicht überall und alle gleichzeitig.
Dein Film wirkt auch politisch – ohne plakativ zu sein. Welche Rolle spielen marginalisierte Perspektiven für dich?
Eine sehr große. Ich bin ohne Bilder, Vorbilder, Geschichten aufgewachsen, die von Menschen wie mir erzählt hätten. Ich war in einer Zeit an Filmschulen, wo wir kaum Filme von Regisseurinnen geguckt haben. Im Nachhinein gesehen – auch wenn ich viele Klassiker liebe und viel gelernt habe – haben mir einfach andere Perspektiven, Blickwinkel, Geschichten gefehlt.
Ich habe, auch wenn es mir gar nicht bewusst war, früh angefangen, „andere“ Geschichten zu erzählen – mein allererster Film etwa war über eine alte Garderobiere, die im Theater an der Garderobe vergessen wurde und beginnt mit den vergessenen Gegenständen des Abends zu sprechen. Mich haben viele Mitstudierende und Professor*innen damals gefragt: „Kerstin, warum machst du so komische Filme, in denen komische Menschen komische Dinge tun.“
Heute sehe ich: Ich habe einfach die Welt aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, mir sind Menschen aufgefallen, die normalerweise eher übersehen werden. Vielleicht weil ich das selber gut kannte. Ich mag es, die Welt eher vom Rand her zu betrachten. Häufig werden Menschen aus marginalisierten Gruppen auf ihre Marginalisierung reduziert, auf ihr „anders“ sein. Aber auch an den Rändern gibt es eine „Normalität“, einen Alltag. Und das finde ich spannend.
Es wird dann oft behauptet, man könne sich mit bestimmten Figuren nicht identifizieren. Ich bin da anderer Meinung. Ich glaube, es geht vielmehr um Empathie. Wir können mit Zeichentrickfiguren, mit Tieren oder Außerirdischen Empathie empfinden. Wir haben eine so unglaubliche Kapazität, uns mit fühlenden Wesen zu verbinden, dass ich glaube: Unsere Welt kann ein paar mehr Perspektiven gut vertragen.
Und wie hat sich denn deine Haltung zum Filmemachen über die Jahre verändert?
Die hat sich schon sehr geändert. Ich habe sehr lange versucht, Menschen etwas zu beweisen, um einen Platz in der Branche zu kämpfen, gesehen zu werden mit allem, was ich anders machen will. Ich war eine der Ersten, die gesagt haben: Mehr Diversität vor und hinter der Kamera ist wichtig und eine Bereicherung für alle; lass uns nachdenken, wie wir miteinander arbeiten wollen, welche Dramaturgien wir benutzen, wessen Perspektive erzählt wird. Da habe ich mich auch sehr aufgerieben. Man wird dann selbst ein bisschen hart. Und auch die Kräfte gehen irgendwann aus, wenn man immer versucht mit dem Kopf durch die Wand zu rennen.
Darum habe ich vor einigen Jahren angefangen, mir quasi „einen eigenen Tisch“ zu bauen, Menschen kennen zu lernen und einzuladen, die ähnliches wollen, wie ich. Gar nicht unbedingt nur inhaltlich, sondern in der Art und Weise wie wir zusammen arbeiten wollen, welche Werte wir teilen, nicht nur auf das filmische Arbeiten bezogen. Das heißt nicht, dass wir immer einer Meinung sind, kreative Auseinandersetzung ist großartig und inspirierend, aber es gibt viel weniger Reibungsverlust. Mein Beruf ist sowieso schon überfordernd an sich, man braucht einen echt langen Atem und muss manchmal von heute auf morgen für Monate aus seinem Leben „aussteigen“, und wenn man dann noch das Gefühl hat, man muss um jede kleine Sache kämpfen oder sich rechtfertigen, macht es irgendwann keinen Spaß mehr. Und es sollte Spaß machen.
Daher habe ich mir mit Blindgänger auch irgendwie einen Traum erfüllt: Mit genau diesen Menschen, auch mit wenig Geld, aber mit viel Freude einen Film zu machen, der sicher nicht perfekt ist – aber bei dem ich in jedem Bild sehe, dass wir unser Bestes gegeben haben. Darauf bin ich stolz.
Eine letzte Frage: Was dürfen wir als Nächstes von dir erwarten?
Ich werde eine Serie machen, über die ich aber noch nicht spezifisch sprechen kann, die ich aber mit Menschen mache, denen diese Art von Zusammenarbeit, wie ich sie beschrieben habe, ebenso wichtig ist.
Aber es gibt auch im Kinobereich etwas, was ich mit Herzblut verfolge: Ein Film über die Malerin Lotte Laserstein. Das Drehbuch hat die tolle Martha Münder geschrieben, produzieren wird Lieblingsfilm – gerade sind wir mit dem Buch in der Shortlist des Emder Drehbuchpreises gelandet. Lotte Laserstein ist eine der ersten Frauen, die in den 1920er Jahren an der Berliner Hochschule für die Bildenden Künste studieren durfte. Sie war auch eine der ersten Frauen, die andere Frauen – auch nackt – gemalt hat – und ihre Modelle die Werke auch signieren ließ – wo es also keine Objektifizierung, keinen klassischen Male Gaze, gab.
Der Film Meine Freundin Lotte erzählt die Geschichte, wie sie nach dreißig Jahren ihr Lieblingsmodell und ehemalige Gefährtin in Schweden wiedertrifft, wohin sie als „Dreivierteljüdin“ emigrieren musste. Das wird dann ein Kammerspiel – so etwas wie Porträt einer jungen Frau in Flammen, nur mit zwei Frauen Mitte sechzig. Das besetzen wir gerade, und darauf freue ich mich sehr.
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