
Am 23. November 1992 wurde die Stadt Mölln in Schleswig-Holstein Zeugin eines rassistischen Brandanschlags auf zwei mehrheitlich von türkischen Familien bewohnte Wohnhäuser. Dabei starben Bahide Arslan (51), ihre zehnjährige Enkelin Yeliz Arslan und deren Cousine Ayşe Yılmaz (14); erstere beim Versuch, die beiden Kinder zu retten. Neun weitere Menschen wurden schwer verletzt. Zwei junge Neonazis wurden für die Tat zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, mittlerweile sind diese wieder auf freiem Fuß. Der Mordanschlag von Mölln allein ist ein unfassbares Verbrechen – bis heute leiden die Opfer und Hinterbliebenen an psychologischen Folgen, die Martina Priessner in ihrer Dokumentation Die Möllner Briefe beleuchtet. Doch auch der Umgang der Stadt macht es ihnen nicht einfacher: 908 Briefe wurden den betroffenen Familien aus der gesamten Bundesrepublik als Zeichen der Solidarität und Unterstützung geschickt, von deren Existenz İbrahim Arslan, selbst Überlebender, erst 2016 erfuhr.
Keine Aufklärung, keine Gewissheit
Wie rezensiert man einen Film, der solch eine Tragödie, solch ein gesellschaftliches und behördliches Versagen dokumentiert? In erster Linie muss man sich dessen bewusstwerden, dass Die Möllner Briefe keine Dokumentation ist, die der Unterhaltung dienen soll, auch nicht einer Bildungsarbeit im Sinne eines Frontalunterrichts; hier stehen die Betroffenen im Mittelpunkt, nicht das Publikum, nicht das Filmteam, nicht die Kinematographie, kein erzeugt werden sollender „Vibe“. Bereits das Cold Opening im Interviewformat, in dem Hava Arslan, Mutter der getöteten Yeliz, direkt und auf den Punkt gebracht vom Trauma erzählt, das ihnen widerfuhr, trägt unheimliche emotionale Wucht mit sich. Es folgt ein zeitgenössischer Bericht aus der Tagesschau, der ob des Schreckens des Passierten magenumdrehend wirkt, gleichzeitig für einen entsetzenden Vergleich mit aktuelleren rechtsterroristischen Anschlägen sorgt – zwischen jetzt und damals liegen fast 33 Jahre. Was hat das deutsche Volk seitdem daraus gelernt?
Betrachtet man zusätzlich Marcin Wierzchowskis Dokumentation Das Deutsche Volk, die ebenfalls dieses Jahr erschien, kommt man leider zu dem Schluss: nicht viel. Im Jahre 2022, in dem Die Möllner Briefe einsetzt, planen Opfer und Hinterbliebene eine eigene Veranstaltung zum 30-jährigen Gedenktag, da sie sich vom städtischen Gedenken nicht gebührend geschätzt fühlen, quasi zu Statist*innen degradiert werden würden, ohne die Möglichkeit, auf einer Bühne zu reden. In der eben genannten Dokumentation zum Hanau-Anschlag ist die mangelnde Wertschätzung seitens der Stadtverwaltung gegenüber der Betroffenen ebenfalls eklatant. Vor allem İbrahim Arslan, der den 23. November 1992 als Siebenjähriger schwer verletzt überlebte und von seiner dabei umgekommenen Großmutter Bahide gerettet wurde, ergreift nun die Initiative, versucht, so viel es geht zu organisieren. Als wäre das nicht schlimm genug, liegt der eigentliche Skandal in der Unterschlagung der für die angegriffenen Familien bestimmten Solidaritätsbekundungen in Form von Briefen, Zeichnungen, Postkarten, Gedichten…
Nur durch Zufall wurden diese von einer Studentin im Möllner Stadtarchiv entdeckt – allesamt geöffnet, mehrheitlich beantwortet. Und obwohl auf vielen Umschlägen eine Bitte um Weiterleitung stand, sah keine einzige Person, die die Tatnacht überlebte, bis zu diesem Punkt auch nur einen davon. Leider kann Bürgermeister Ingo Schäper auch nicht für mehr Klarheit sorgen; warum die Briefe so lange in Verwahrung blieben und niemals zugestellt wurden, wisse er nicht. Anscheinend wären die Polizei und die Verwaltung schlicht überfordert gewesen: „Auch wenn es für Sie schlimm war, für uns war das auch eine Ausnahmesituation.“
Raum für Betroffene
Jedes Mal, wenn der Inhalt dieser Zusendungen gezeigt wird, ist es gleich auf mehrere Weisen herzzerreißend: Man sieht Zeichnungen von Kindern, die vom Anschlag hörten und die betroffenen Familien trösten wollten, empathische Solidaritätsbekundungen, Fragen nach Spendenmöglichkeiten, Fassungslosigkeit ob der furchtbaren Tat. Man selbst fragt sich, wie so etwas möglich war, weiterhin möglich ist, rangiert von Trauer zu Wut und wieder zurück. Gleichzeitig ist der Stärke der Familie Arslan, die hier vordergründig porträtiert wird, bewundernswert: Alle auf ihre eigene Art, versuchen sie tagtäglich mit dem Geschehenen klarzukommen, dabei ihr aktuelles Leben zu führen und eigene Probleme zu bewältigen, manche intrinsisch, manche mit direkter Konfrontation. So trifft sich İbrahim mit etlichen Verfasser*innen der Briefe, um mit ihnen persönlich darüber zu reden.
Regisseurin Martina Priessner gibt ihnen hier den entschleunigten Raum, ohne Unterbrechungen, Zwischenfragen oder gar Dramatisierung, über all das zu erzählen. Das ist ein wichtiges Signal für eine Gesellschaft, die sich bis heute zuerst mit Tätern als mit Opfern beschäftigt, stattdessen Opfer sogar kriminalisiert, wenn diese migrantische Wurzeln haben. İbrahim Arslan erinnert sich an Rassismus seit seiner Kindheit: Als er dem Tag der offenen Tür bei der Polizei beiwohnen wollte, ließ ein Beamter ihn und einen Freund vor dem Gebäude stehen, begründet mit der Aussage, dass diese „die Zelle sowieso irgendwann von innen sehen“.
Umso wichtiger ist es, dass diese Dokumentation die Opfer nicht nur als „Opfer“ beleuchtet, sondern als vielschichtige Menschen, deren Leben vom deutschen Rassismus geprägt wurde, die jedoch eigene Gedanken, Träume und Ambitionen haben, sich hier öffnen und verletzlich zeigen. Die Kamera kommt ihnen sehr nah, auf äußerst feinfühlige Art und Weise, die sich hoffentlich aufs Publikum überträgt. Die filmische Aufbereitung der Gegebenheiten ist eher statisch, klar und nicht übermäßig ästhetisierend, dabei wird trotzdem auf ein ansehnlich komponiertes Bild bedacht, das Colorgrading ist weder deprimierend-entsättigt noch überzeichnet-farbenfroh; schlicht realistisch, dem Anlass entsprechend.
Dies erfüllt den Zweck, dass der Inhalt und vor allem die Betroffenen die Aufmerksamkeit erhalten, die sie verdienen. Menschen wie İbrahim Arslan sollte die deutsche Mehrheitsgesellschaft dankbar sein, dass sie ihr nicht den Rücken kehren – nicht nur kümmert er sich um eine würdevolle Gedenkveranstaltung und um die Kommunikation mit der Stadt, sondern organisiert einen Verein zur bundesweiten Vernetzung Betroffener rechter Gewalt: „Es ist natürlich schwer, alle zusammenzubringen. Du sitzt mit Menschen, die jüdische, muslimische, türkische, kurdische Perspektiven haben. Und was vereint uns gemeinsam? Der Rassismus in Deutschland.“
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