Am 19. Februar 2020 erschütterte ein rassistischer Anschlag Hanau und die gesamte Bundesrepublik. Neun Menschen wurden ermordet. Der Dokumentarfilm Das Deutsche Volk von Marcin Wierzchowski, der auf der Berlinale Premiere feierte, zeichnet die Ereignisse ab diesem Tag nach. Er gibt den Angehörigen der Opfer eine Stimme und begleitet sie über Jahre in ihrem Kampf um Aufklärung, Gerechtigkeit und Erinnerung. Wierzchowski begann unmittelbar nach dem Anschlag mit den Dreharbeiten – in einer Zeit, als viele Journalisten Hanau aufgrund des ersten Corona-Lockdowns bereits verlassen hatten. Durch seine anhaltende Präsenz gewann er das Vertrauen der Hinterbliebenen. Im Zentrum stehen Çetin Gültekin, der Bruder des ermordeten Gökhan, Armin Kurtović, der Vater von Hamza, und Niculescu Păun, der Vater von Vili-Viorel. Sie berichten von ihrem Verlust, ihrer Wut und ihrem unermüdlichen Einsatz für Gerechtigkeit.
Wer gehört zum „deutschen Volk“?
Der Titel des Films verweist auf das Denkmal der Gebrüder Grimm auf dem Hanauer Marktplatz. Die Inschrift „Den Gebrüdern Grimm – Das Deutsche Volk“ suggeriert eine Homogenität der deutschen Gesellschaft. Doch genau diese wird im Film hinterfragt: Wer gehört zum „deutschen Volk“? Die Angehörigen der Opfer – viele mit Migrationsgeschichte, die in Hanau aufgewachsen sind – fühlen sich oft ausgeschlossen. Ihr Wunsch, dass ein Mahnmal für die Opfer des Anschlags auf dem Marktplatz errichtet wird, stößt auf Widerstand in der Stadtverwaltung. Die Diskussion um den Gedenkort zieht sich durch den Film und zeigt, wie tief verwurzelt Rassismus und institutionelle Ignoranz noch immer sind. Neben der politischen Dimension dokumentiert Wierzchowski auch die Trauerarbeit der Familien. Die Kamera begleitet sie zu Beerdigungen, Trauerfeiern und Gedenkveranstaltungen – in Deutschland, aber auch in die Heimatländer der Familien. Der Film reist mit Çetin Gültekin in die Türkei, um traditionelle Trauerrituale zu zeigen, und mit Vili Păuns Eltern nach Rumänien, wo sie um ihren Sohn trauern.
Stilistisch hebt sich Das Deutsche Volk von der Fernsehdokumentation Hanau – Eine Nacht und ihre Folgen ab, die Wierzchowski 2021 für den Hessischen Rundfunk drehte und für die er den Grimme-Preis erhielt. Während die Fernsehdoku in Farbe gehalten war und mit einem Off-Kommentar arbeitete, setzt der Kinofilm auf eine konsequente Schwarz-Weiß-Ästhetik. Diese Entscheidung verleiht dem Film eine fast zeitlose Qualität und verstärkt seine emotionale Wucht. Die Abwesenheit von Farbe lenkt den Fokus auf Gesichter, Gesten, tief empfundene Trauer. Ein erklärender Kommentar fehlt bewusst. Der Film bleibt ausschließlich bei der Perspektive der Angehörigen, die Wut über institutionelles Versagen und unbeantwortete Fragen ist allgegenwärtig. Kritiker mögen anmerken, dass der Film zu einseitig sei – doch eine Täterperspektive hat hier nichts zu suchen. Auch Politiker kommen zu Wort – oft bei Gedenkveranstaltungen, wo sie betonen, dass sich etwas ändern müsse. Doch die Angehörigen fragen sich, ob sich seit Hanau tatsächlich etwas verändert hat.
Offene Fragen
Neben der persönlichen Tragödie thematisiert Das Deutsche Volk strukturelle Versäumnisse: Warum war der Notausgang der Arena-Bar, einem der Tatorte, verschlossen? Warum dauerte es über eine Stunde, bis die Polizei die Leiche des Täters in seinem eigenen Haus fand? Warum wurde das Sondereinsatzkommando, das das Haus des Täters durchsuchte, später aufgelöst, weil über die Hälfte seiner Mitglieder in rechtsextremen Chatgruppen aktiv war? Diese Fragen bleiben unbeantwortet – und verstärken das Gefühl der Angehörigen, dass ihnen Gerechtigkeit bis heute verweigert wird. Am Ende des Films bleibt ein Gefühl der Beklemmung, aber auch der Bewunderung für die Menschen, die trotz ihres Schmerzes weiterkämpfen, um das Andenken an ihre ermordeten Angehörigen zu bewahren. Ihre Namen dürfen nicht vergessen werden:
Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili-Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov.
OT: „Das Deutsche Volk“
Land: Deutschland
Jahr: 2025
Regie: Marcin Wierzchowski
Drehbuch: Marcin Wierzchowski
Musik: Louisa Beck, Kaan Bulak
Kamera: Marcin Wierzchowski, Peter Peuker, Pascal Berneburg
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