The Holdovers
Paul Giamatti als Internatslehrer in "The Holdovers" (© Focus Features)

Paul Giamatti [Interview]

In The Holdovers nimmt uns Regisseur Alexander Payne mit auf eine Reise in die frühen 1970er und erzählt von einer Gruppe von Menschen, die über Weihnachten in einem Internat feststecken. Einer davon ist der Lehrer Paul Hunham (Paul Giamatti), der in der Schule Geschichte unterrichtet und von allen wegen seiner strengen Noten gefürchtet ist. Im Laufe des Films lernen wir Paul aber von einer anderen Seite kennen, nachdem er mehr Zeit mit dem rebellischen Schüler Angus Tully (Dominic Sessa) und der Köchin Mary Lamb (Da’Vine Joy Randolph) verbringt, die beide ihre traurigen Geschichten haben. Wir haben Paul Giamatti, der für seine Rolle einen Golden Globe erhalten hat und nun auch für einen Oscar nominiert wurde, getroffen und konnten uns mit dem Schauspieler über seine Rolle, die Arbeit an der Tragikomödie und sein Leben in der Öffentlichkeit unterhalten.

Du hast gerade den Golden Globe für The Holdovers bekommen. Welche Bedeutung haben solche Preise für dich?

Es ist immer nett, nominiert zu werden, auch weil ich es nicht erwartet hatte. Das zeigt, dass die Menschen deinen Film mochten.

Du arbeitest bei The Holdovers wieder mit Regisseur Alexander Payne zusammen, fast 20 Jahre nach Sideways. Wie war das für dich?

Es war großartig! Es fühlte sich so an, als wären nicht 20 Jahre seither vergangen. Aber wir sind damals aber auch Freunde geworden. Es war also nicht so, als hätten wir uns seither nicht mehr gesehen.

Es gibt einige Gemeinsamkeiten zwischen dem Film und deiner eigenen Biografie. Dein Vater war Professor und du selbst warst auf einem Internat. Hat dich das bei dem Film beeinflusst?

Absolut! Ich denke, dass das auch ein Grund war, warum Alexander wollte, dass ich die Rolle übernehme. Er dachte wohl, dass ich diese Welt verstehen würde und auch Leute wie meine Figur kennen würde. Darauf habe ich mich auch selbst verlassen und keine großen Recherchen betrieben. Ich wollte das einfach auf mich zukommen lassen. Wobei meine Schulzeit doch etwas anders war. Ich bin erst in den frühen 80ern auf das Internat gegangen, also zehn Jahre später als die Figuren in unserem Film. Bei uns gab es auch Mädchen. Außerdem habe ich dort nicht übernachtet, sondern war nur tagsüber dort. Das ist dann doch noch mal eine etwas andere Erfahrung. Aber es gab natürlich viele Gemeinsamkeiten. Da waren immer noch solche Professoren unterwegs, die hatten sich nicht viel geändert. Tatsächlich war es ein bisschen so, als wäre ich in die Vergangenheit gereist.

Am Ende wird Paul zu einer wichtigen Bezugsperson für Angus. Gab es Lehrer in deinem Leben, die für dich eine große Bedeutung hatten?

Sicher. Da war zum Beispiel ein Schauspiellehrer, als ich schon etwas älter war und mich entschieden hatte, Schauspieler zu werden. Er hatte einen großen Einfluss auf mich. Ich hatte viele Lehrer, die wirklich gut waren. Aber ich hatte auch negative, die vielleicht sogar einen bleibenderen Eindruck hinterlassen haben. Ich hatte einen furchterregenden Mathematiklehrer, der eine lebenslange Narbe hinterlassen hat. Es gab Kinder, die seinetwegen die Schule verlassen haben. Er war ein furchtbarer Mensch, der viele gebrochen hat. Ich habe heute noch Alpträume vom Mathematikunterricht!

Kam es für dich je in Frage, selbst Lehrer zu werden?

In meiner Familie gab es ganz viele Lehrer, weswegen das schon auch eine Möglichkeit gewesen wäre. Aber ich glaube, ich wäre kein guter Lehrer geworden. Ich bin da das Gegenteil meiner Figur. Während er zu streng ist, wäre ich zu nachgiebig gewesen.

Als Lehrer hast du eine große Verantwortung für die Kinder und Jugendlichen, besonders wenn du solche lebenslangen Narben hinterlässt. Fühlst du eine ähnliche Verantwortung, wenn du mit jungen Schauspielern zusammenarbeitest, vor allem mit jemandem wie Dominic Sessa, der vorher noch nie vor der Kamera stand?

Wir haben natürlich schon ein Auge auf ihn gehabt, Alexander, Da’Vine und ich. Aber er brauchte nicht viel Anleitung von uns. Außer ihm habe ich nur einmal mit jemandem gearbeitet, der noch unerfahren war. Bei ihm war es genauso. Beide waren so selbstbewusst und talentiert. Sie waren auch sehr smart und haben sehr schnell Dinge aufgesaugt. Das einzige, was ich bei Dominic gemacht habe, war ihm zu sagen, wie gut er ist. Mehr Hilfe brauchte er gar nicht.

The Holdovers
Eine Schicksalsgemeinschaft: Köchin Mary Lamb (Da’Vine Joy Randolph), Lehrer Paul Hunham (Paul Giamatti) und Schüler Angus Tully (Dominic Sessa) müssen in „The Holdovers“ notgedrungen Weihnachten im Internat verbringen. (© Focus Features)

Wie sieht es mit deiner Rolle aus? Was hat dir geholfen, Zugang zur Figur Paul zu finden?

Es gab glaube ich nicht diesen einen Punkt, der die Figur für mich geöffnet hat. Ein paar Sachen haben mir aber schon geholfen. Dazu gehört die sehr spezifische Jacke. Die war ganz wichtig, weil alle Akademiker und Intellektuelle, die ich als Kind kannte, trugen eine solche Jacke. Ohne diese Jacke wäre das für mich nicht stimmig gewesen. Aber auch sonst waren da viele Merkmale, die für mich spannend waren. Die Sache mit dem Auge zum Beispiel, mit dem etwas nicht stimmt, war für mich am Anfang gewöhnungsbedürftig. Es war aber auch eine interessante Erfahrung.

Wie lief das mit dem Auge eigentlich? Wie hast du das umgesetzt?

Das darf ich nicht verraten. Aber es ist ein ganz einfacher Trick, der so gut funktioniert, dass ihn die Leute nicht einmal bemerken. Ich wurde sogar von Leuten, die mich kennen, gefragt, ob das echt ist, weil sie das vorher nie an mir gemerkt hatten.

Aber wozu das Ganze? Was bringt das für die Figur?

The Holdovers ist von einem französischen Film aus den 1930ern inspiriert, Merlusse von Marcel Pagnol. Auch da hatte der Lehrer schon ein solches Auge. Bei Paul ist das mit dem Auge eines von mehreren Merkmalen, die ihn von anderen unterscheiden: Er riecht und hat schwitzige Hände. Das alles trägt dazu bei, dass er ein Außenseiter ist und von anderen nicht akzeptiert wird. Deshalb baut er diese harte Fassade auf, um irgendwie durchs Leben zu kommen und zu verdecken, dass er all diese Wunden hat.

Hinzu kommt, dass Paul nicht das erreicht hat, was er vom Leben wollte, und sich selbst als gescheitert ansieht. Und doch macht er eine wichtige Arbeit, er bringt eine Veränderung für all die Jugendlichen, tut etwas Gutes. Wie würdest du ein erfolgreiches Leben definieren? Denn er hat schon Erfolg auf eine Weise.

Ja, das stimmt. Er hat Erfolg auf eine Weise. Ich denke, dass sein Problem eher ist, dass er sich nicht erfüllt fühlt. Er ist nicht zufrieden mit seinem Leben, weil er nichts Kreatives tut. Paul ist ein kreativer Mensch, der nur die Geschichte anderer wiedergibt. Wahrscheinlich würde er sich erfolgreicher fühlen, wenn er wirklich etwas Eigenes schaffen würde, anstatt nur dem zu folgen, was andere ihm vorgeben. Vielleicht wäre er nicht erfolgreicher. Aber er wäre glücklicher.

Es kommt auch abgesehen von dem Auge dazu, dass die Leute dich in einer Rolle sehen und das für echt halten. Freut dich das?

Ja und nein. Auf der einen Seite freut es dich natürlich, wenn du deine Arbeit so überzeugend machst, dass andere das für echt halten. Aber es ist auch etwas komisch, wenn die Leute denken, dass du und deine Figur identisch seid. Manchmal ist es sogar frustrierend. Das ist ein bisschen so, als würden sie an den Weihnachtsmann glauben. Gleichzeitig muss da etwas in dir sein, das mit der Figur übereinstimmt, weil das alles aus deiner Vorstellungskraft kommt.

Nach deinem Sieg bei den Golden Globes ging ein Bild von dir viral, in dem man dich mit dem Preis bei einer Burgerkette sieht. Wie gehst du damit um, ständig unter Beobachtung zu sein?

Es ist seltsam. Bislang hatte ich mit so etwas keine Erfahrungen gemacht. Das war das erste Mal, dass ich mich tatsächlich beobachtet gefühlt habe, und ich bin ganz froh, dass das nicht mein Alltag ist. Ich kann auch nicht verstehen, warum manche Sachen viral gehen und andere nicht. Ich fand das schon faszinierend. Aber ich kann auch allgemein nicht viel mit sozialen Medien anfangen. Oder Technik. Ich bin im Grunde ein analoger Mensch.

Dazu passt dann auch der zeitliche Rahmen von The Holdovers, da der Film in den frühen 1970ern spielt. Warum wurde das als Setting gewählt?

Letzten Endes müsstest du das Alexander fragen. Ein Grund war sicherlich der Vietnamkrieg, der sehr gut als Hintergrund funktioniert. Aber ich denke, Alexander wollte auch eine analoge Welt, in der es keine Computer oder sowas gibt. Er wollte eine gewisse Nostalgie erzeugen für diese vergangene Zeit.

Du hast einmal einen Film namens The Congress gedreht, bei dem eine Schauspielerin die Rechte an ihrem Äußeren abgibt, um von einer Computerfigur ersetzt zu werden. Das Thema wurde zuletzt auf einmal sehr aktuell. Ist das etwas, das dir für die Zukunft Sorgen bereitet?

Das stimmt, es ist unglaublich, wie aktuell der Film auf einmal geworden ist. Aber ich mache mir da um mich selbst keine Sorgen. Viel beunruhigender ist, dass beispielsweise Präsidenten gefälscht werden könnten. Das ist gravierender als die Gefahr, dass ich einmal ohne Job dastehen könnte. Im Moment ist noch nicht abzusehen, was das alles bedeutet. Vielleicht wird auch etwas Gutes daraus. Wer weiß? Aber ich bin skeptisch. Denn mal im Ernst: Warum solltest du einen anderen Menschen perfekt rekreieren wollen? Das kann ja nur auf Unterhaltung oder auf Betrug hinauslaufen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person
Paul Giamatti wurde am 6. Juni 1967 in New Haven, Connecticut, USA geboren. Er spielte schon während der Schulzeit Theater und studierte später an der Yale School of Drama. 1990 gab er sein Debüt vor der Kamera in dem Fernsehfilm She’ll Take Romance. In den 1990ern war er zunehmend auch in Kinoproduktionen zu sehen. So wurde er einem größeren Publikum durch die Komödie Private Parts (1997) bekannt. In den 2000er Jahren spielte er unter anderem in Alexander Paynes Sideways (2003) sowie in dem Sportdrama Das Comeback (2005), das ihm eine Nominierung als bester Nebendarsteller einbrachte. Zu seinen bekanntesten Fernsehtiteln gehören die Miniserie John Adams sowie Billions. Für seine Rolle als zynischer Lehrer in The Holdovers erhielt er einen Golden Globe als bester Hauptdarsteller und eine Nominierung bei den Oscars.



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