Der Engländer, der in den Bus stieg und bis ans Ende der Welt fuhr The Last Bus
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Der Engländer, der in den Bus stieg und bis ans Ende der Welt fuhr

Der Engländer, der in den Bus stieg und bis ans Ende der Welt fuhr The Last Bus
„Der Engländer, der in den Bus stieg und bis ans Ende der Welt fuhr“ // Deutschland-Start: 11. August 2022 (Kino) // 18. November 2022 (DVD/Blu-ray)

Inhalt / Kritik

Tom (Timothy Spall) ist ein alter Mann. Sehr alt, um genau zu sein. Der Gang des 90-Jährigen ist unsicher, sein Blick oft in sich gekehrt, seine Miene von der äußersten Anstrengung gezeichnet, die kleinen Alltagspflichten noch auf die Reihe zu kriegen. Vor kurzem hat Tom seine geliebte Frau Mary (Phyllis Logan) verloren. Mit ihr ist er einst aus dem äußersten Südwesten Englands, von Land’s End, in den höchsten Norden Schottlands gezogen. Es ist die denkbar größte Entfernung auf der Insel, 1300 Kilometer quer durchs Land. Schon zu Marys Lebzeiten wollte das Paar dem Ort, wo man sich verliebt hatte, einmal einen Besuch abstatten. Aber Mary war noch nicht bereit dazu, und irgendwann war es zu spät. Nun will Tom die Reise allein antreten, eine Art Pilgerfahrt zu Ehren der Verstorbenen. Weil er aber wenig Geld hat, muss er dazu die Busse des Nahverkehrs nutzen, die für Rentner kostenlos sind. Peinlich genau notiert er sich die Stationen der Route in ein Notizbuch: all die Ankünfte, Abfahrtszeiten, Umstiege und Zwischenhalte. Und natürlich kommt alles anders als geplant in dem leisen, melancholisch-schönen Roadmovie.

Sensible Miniaturen

Irgendwo an einer Haltestelle: Zwei junge Frauen, vielleicht Anfang 20, streiten sich heftig. Worum es geht, ist nicht zu hören. Aber Zeit zum Ausdiskutieren haben sie nicht. Die eine bleibt draußen, die andere steigt in den Bus und setzt sich direkt neben Tom in die letzte Reihe. Aus den Tränen, die sie bereits in den Augen hat, wird hemmungsloses Schluchzen. Tom greift nach dem Stofftaschentuch in seiner Jackentasche, steckt es aber wieder weg – zu verschmutzt. Was soll er tun? Er hebt den Arm, lässt ihn wieder sinken, hebt ihn erneut und legt ihn schließlich doch um die Schulter der jungen Frau, die völlig aufgelöst ist, vielleicht aus Liebeskummer. Gesprochen wird nicht, aber in Toms Miene macht sich stilles Verständnis breit. Erinnerungen an eigenes Leid tauchen vor dem geistigen Auge auf.

Die kleine Szene gehört längst nicht zu den bewegendsten Momenten einer fein komponierten Dramaturgie, die von sensiblen Miniaturen ebenso lebt wie von emotionalen Höhepunkten der Freude, der Verblüffung und der Menschlichkeit. Dennoch spiegelt sich in ihr ein Grundmotiv. Tom hat sich einerseits vom Leben um ihn herum verabschiedet, verfolgt im Grunde nur seine ganz private Mission. Trotzdem lässt er sich immer wieder berühren, nimmt Anteil an dem, was ihm widerfährt. Das führt sogar dazu, dass seine Kenntnisse als Automechaniker wieder aufblitzen und er kurzerhand mal den Bus repariert. Oder dass ihn die Zivilcourage dazu treibt, einer Muslima im Ganzkörperschleier beizustehen, die von einem jungen Rowdy sexistisch gemobbt wird.

Phänomenales Schauspiel

Timothy Spall, der selbst bei den Dreharbeiten 2019 erst 62 war, spielt das hohe Alter phänomenal. Die Beschwerlichkeit jeder Bewegung, das Ringen des eisernen Willens mit der Hinfälligkeit des Körpers, der Kampf gegen allgegenwärtige Schmerzen – all das spiegelt sich noch in den feinsten Zuckungen der Mundwinkel. Aber auch die kleinen Freuden zeichnen sich in Gesicht und Körper ab: ein Leuchten der Augen, eine kurze Entspannung, ein Moment des Einverständnisses mit dem unabänderlichen Schicksal der Gebrechlichkeit. Es ist ein Zustand des Dazwischen: noch im Hier und Jetzt, aber immer zugleich im Land der Erinnerung, der Träume und Flashbacks. Gerade in den Rückblenden zu dem jungen Paar (gespielt von Natalie Mitson und Ben Ewing) zeigt sich das treffsichere Feingefühl des schottischen Regisseurs Gillies MacKinnon (Jahrgang 1948). Er taucht sie in ein verklärendes, leicht märchenhaftes Licht, das keineswegs kitschig wirkt, sondern sich wie ein tröstlicher Filter über die Härten des hohen Alters legt.

Auch der leise Humor, den Drehbuchautor Joe Ainsworth (Jahrgang 1964) seinem Protagonisten gönnt, schafft Kontrapunkte zu der herzergreifenden, auch schmerzlichen Elegie über die letzten Stationen des Lebens. Doch leider legt der deutsche Verleihtitel eine völlig falsche Fährte. Mit dem Slapstick und den Witzen von Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand (2014) hat die tragikomische Betrachtung des Films, der im Original The Last Bus heißt, nichts gemein. Natürlich spricht Der Engländer, der in den Bus stieg und bis ans Ende der Welt fuhr vorwiegend die älteren Semester des Arthouse-Publikums an. Aber er biedert sich ihnen keineswegs in der Weise an, die der deutsche Titel befürchten lässt.

Credits

OT: „The Last Bus“
Land: UK
Jahr: 2021
Regie: Gillies MacKinnon
Drehbuch: Joe Ainsworth
Musik: Nick Lloyd Webber
Kamera: George Geddes
Besetzung: Timothy Spall, Phyllis Logan, Natalie Mitson, Ben Ewing, Patricia Panther

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Der Engländer, der in den Bus stieg und bis ans Ende der Welt fuhr
Fazit
„Der Engländer…“ erzählt in einer wunderbaren Balance aus Schwere und Leichtigkeit von einem sehr alten Mann, der eine Mission zu erfüllen hat und deshalb allen Widrigkeiten und Beschwernissen einer 1300 Kilometer langen Reise in Nahverkehrsbussen trotzt. Timothy Spall setzt den Glanzlichtern seiner beeindruckenden Karriere mit einer überragenden Darstellung die Krone auf.
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