Red Rocket Interview
Sean Baker (3. v.l.) am Set von "Red Rocket" (© Universal Pictures/Drew Daniels)

Sean Baker [Interview]

In seinem sechsten Langfilm Red Rocket erzählt Regisseur und Co-Autor Sean Baker die Geschichte des ehemaligen Pornodarstellers Mikey Saber (Simon Rex), der Los Angeles verlässt und wieder in seine alte Heimat zurückkehrt, einen kleinen Ort in Texas. Der Neuanfang gestaltet sich dabei jedoch schwierig, da er aufgrund seiner Vergangenheit nicht unbedingt willkommen ist. Seine Frau Lexi (Bree Elrod) hat beispielsweise überhaupt keine Lust ihn wiederzusehen. Doch dann trifft er Strawberry (Suzanna Son), die in einem kleinen Donutshop arbeitet, und die er zu einem Pornostar machen möchte. Anlässlich des Kinostarts der Tragikomödie am 14. April 2022 unterhalten wir uns mit dem Filmemacher über die Pornoindustrie, heimliche Filmdrehs und die Arbeit mit einem laienensemlbe.

 

Im Mittelpunkt von Red Rocket steht ein Mann, der eine ganz eigene Beziehung zu den Frauen in seinem Leben hat. Könntest du uns mehr über die Beziehung zwischen Mikey und den weiblichen Figuren verraten und wir du diese entwickelt hast?

Die ganze Idee basiert auf Nachforschungen, die ich im Bereich des Erotikfilms gemacht habe, wo ich eine Reihe von Männern getroffen habe, die vom Typ Mikey Saber sind. Es war interessant zu sehen, welche Beziehungen diese zu Frauen haben. Die konnten sehr komplex sein, aber auch verstörend. Auf jeden Fall waren sie sehr faszinierend und bildeten die Grundlage für meine Geschichte. Es ging dann nur noch darum, diese Beziehungen auszubauen. An der Stelle muss ich mich auch bei meinen Schauspielerinnen Bree Elrod und Suzanna Son bedanken, die noch einmal sehr viel mehr Tiefe in die Figuren gebracht haben. Tatsächlich genoss ich die Arbeit mit den beiden so sehr, dass ich noch während der Produktion weitere Szenen für sie geschrieben habe, damit wir mehr von ihren Figuren sehen können.

Dennoch ist der Film aus dem Blickwinkel von Mikey erzählt, also dem Mann, was heute schon etwas kontrovers ist. War das so geplant?

Es war letztendlich einfach notwendig. Als mir bewusst wurde, dass es sich bei dem Film um eine Charakterstudie handeln wird, die aufzeigt, wie seine Gedanken und seine Art zu denken andere beeinflussen, führte daran kein Weg vorbei. Das bedeutete auch, dass das Publikum in seinem Kopf sein musste und aus seiner Sicht alles sieht, was manchmal recht unangenehm sein kann. Ich hätte auch ein objektives Drama daraus machen können, in dem er der große böse Wolf ist und Strawberry das unschuldige Lamm. Aber das wurde bereits millionenfach erzählt. Ich wollte etwas, das komplexer ist und immer wieder aus seiner Sicht schildert, anstatt einfach nur schwarzweiß zu sein.

Du hast vor einigen Jahren mit Starlet schon einmal einen Film gedreht, der in dem Bereich der Pornoindustrie spielt. Was interessiert dich so sehr an den Menschen, die in diesem Bereich arbeiten?

Die Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten, da hier glaube ich mehrere Faktoren zusammenkommen. Ein Teil ist sicherlich, dass ich nicht glücklich darüber bin, wie Sexarbeit in Filmen und Serien dargestellt wird, und deshalb das Thema einmal anders untersuchen wollte. Ich nehme ganz universelle Geschichten, die man eigentlich über jeden erzählen könnte, und wende sie bei Sexarbeitern und Sexarbeiterinnen an. Auf diese Weise mache ich die Figuren menschlicher und alltäglicher und kann dazu beitragen, dieses Stigma abzutragen, dass auf diesen Leuten lastet. Das ist aber nur einer der Gründe. Wahrscheinlich müsste ich mich meinem Therapeuten sprechen, um den Rest wirklich zu verstehen. (lacht) Und letztendlich gibt es Millionen von Geschichten aus dieser Welt, die es wert sind erzählt zu werden. Tatsächlich haben wir damals am Set von Starlet schon darüber gesprochen, wie viel Potenzial das hat. Mein Kameramann Radium Cheung sagte damals zu mir, dass hier so viele Geschichten nur auf uns warten. Und er hatte recht!

Du hast in Red Rocket mit mehreren Leuten aus diesem Bereich zusammengearbeitet, die dich beraten haben. Wie sehr haben sie den Film geprägt?

Genau, wir hatten vier Berater aus dem Bereich Porno und einen weiteren Sexarbeiter außerhalb dieses Bereiches. Sie haben mir sehr dabei geholfen, dass der Film so genau und realistisch wie möglich ist, indem sie mir gesagt haben, was in dem Drehbuch stimmt und was nicht. Da ging es um die richtigen Begriffe, dass Mikey beispielsweise ein „Scout“ wäre und kein „Coach“. Es ging aber auch darum, wie die Figuren diese Arbeit repräsentieren. Wir verwenden einen Archetyp, der jetzt nicht unbedingt schmeichelhaft ist. Wir wollten ihn aber auch nicht zu einseitig schlecht machen. Ich wollte gerade auch bei Strawberry, dass sie nicht einfach nur ein Opfer ist, das ausgenutzt wird, sondern selbst ein treibender Faktor ist. In der Hinsicht waren sie sehr hilfreich.

Die Pornoindustrie und die reguläre Filmindustrie haben viele Sachen gemeinsam: Es gibt Schauspieler, es gibt Regisseure, es gibt Kameras usw. Wenn du als regulärer Filmemacher auf die Pornoindustrie schaust: Ist sie Teil deiner Filmindustrie, als eine Art Genre zum Beispiel, oder ist sie etwas komplett anderes?

Sie ist weniger stark integriert, als sie es früher einmal war. Früher gab es sehr viel mehr Crossover zwischen den beiden. Heute gibt es das kaum noch und wenn dann im Arthouse-Bereich. Die Filme der französischen Regisseurin Catherine Breillat sind so explizit, dass sie auch als Porno durchgehen. Ansonsten sind die Welten heute völlig voneinander getrennt, leider. Eine unserer Beraterinnen bei „Red Rocket“ dreht jetzt auch eigene Filme, bekommt dafür aber praktisch keine Anerkennung. Die Indie-Filmszene nimmt sie nicht wahr, weiß nicht einmal, dass sie existiert. Dabei ist die Pornoindustrie durchaus einflussreich. Dass VHS damals Standard wurde, lag auch an ihr, weil sie von Anfang an darauf gesetzt hat und damit einen Markt schuf. Gerade kürzlich hat mir auch jemand gesagt, dass der Grund dafür, dass Virtual Reality sich bislang nicht durchgesetzt hat, der ist, dass er auch im Pornobereich noch nicht durchgestartet ist. Das war auch ein Grund, weshalb der Film 2016 spielt, da sich seither so viel getan hat. Du hast jetzt Plattformen, auf denen die Adult Performers den Content selbst hochladen und kontrollieren können.

Das Jahr 2016 zeigt sich auch anderweitig: In Red Rocket ist Donald Trump allgegenwärtig, ob nun im Fernsehen oder in den Schildern, die vor den Häusern aufgestellt wurden. War das jetzt die Folge der Zeit, in der du den Film gedreht hast, oder hast du explizit nach dieser politischen Komponente gesucht?

Der Film ist natürlich auch ein Zeitporträt. Wir erinnern uns alle an 2016 und die Auftritte von Trump und wir wollten den Kontext der Geschichte deutlich machen. Es geht aber nicht direkt um ihn, seine Partei oder auch die konkrete Politik. Ich will da auch niemandem etwas vorgeben, das Publikum soll ruhig für sich selbst interpretieren. Vielmehr soll der Film zeigen, wie es war, in dieser Zeit zu leben und wie dieser verrückte Wahlkampf überall die Menschen erreicht hat. Das war wie eine Reality TV Show.

Kommen wir zum Dreh an sich. Als Simon Rex den Film Independent Spirit Award erhalten hat, meinte er, dass ihr bei der Szene, in der er nackt durch die Gegend rennt, vor der Polizei und Nachbarn verstecken musstet. Stimmt das?

Das stimmt tatsächlich. Red Rocket ist ein wirklicher Independent Film, nicht nur im Hinblick auf das Budget, das bei uns sehr klein war. Manchmal musst du bei solchen Produktionen Abkürzungen nehmen. Damit meine ich nicht, dass jemand ein wirkliches Risiko auf sich nehmen musste. Aber es gab doch Szenen, in denen wir nicht so wirklich eine Dreherlaubnis hatten und einfach Guerrilla-mäßig die Situation nutzen mussten. Darunter eben auch die, in der Simon nackt durch die Gegend rennt. Das war eine nervenaufreibende Nacht für uns. Aber wir hatten auch sehr viel Spaß dabei und fühlten uns wieder wie Jugendliche, die etwas Verbotenes tun.

In deinen Filmen arbeitest du neben erfahrenen Schauspielern wie Simon auch viel mit unbekannten und unerfahrenen Leuten, die noch nie vorher einen Film gedreht haben. Könntest du uns mehr darüber sagen, wie eine solche Zusammenarbeit bei dir aussieht?

Das hängt natürlich immer von den Schauspielern und Schauspielerinnen ab. Jeder Mensch ist ein Individuum. Du musst erst einmal herausfinden: Wollen die das? Wollen die in einem Film sein und zwei Stunden auf der Leinwand zu sehen sein? Wenn dieser Enthusiasmus nicht da ist, dann wird das nicht funktionieren. Sie müssen das Schauspielern schon wollen. Der nächste Schritt ist herauszufinden, wie viel Unterstützung sie dabei brauchen. Meine Frau Samantha Quan ist wunderbar darin, Neulinge zu coachen. Du musst sie auf ein Level bringen, auf dem sie sich sicher und wohl fühlen. Da hilft es, wenn die Crew eher klein ist und sich niemand eingeschüchtert fühlt. Ich ermuntere sie auch immer dazu, sich selbst einzubringen, in Improvisationen oder indem sie eigene Lebenserfahrungen verwenden. Sie können auch das Drehbuch ändern, wenn sie der Meinung sind, dass es das verbessert. Wenn ich zum Beispiel etwas über Texas sage und jemand kommt aus der Gegend und meint, dass es anders authentischer wäre, dann sollen sie das ruhig sagen. Ich setze da ganz auf Teamwork, weil wir zusammen dasselbe Ziel verfolgen.

Neben den menschlichen Figuren sind auch deine Locations Charaktere. Könntest du uns noch etwas zu dem Thema sagen, sowohl über die texanische Kleinstadt wie auch den Donut-Laden? Der sieht wie so ein typischer Sean Baker Ort. Habt ihr das einfach so gefunden oder gezielt erschafft?

Erschafft haben wir gar nichts. Wir mussten diese Locations erst noch finden. Alex Coco, einer der Produzenten an dem Film, und ich sind die ganze Strecke vom tiefsten Süden hochgefahren und haben Ausschau nach passenden Orten gehalten. Bis wir dann diesen gefunden haben, der uns ansprach, auf verschiedenen Ebenen. Visuell natürlich, aber auch wegen der historischen Komponente: Der Ort hat eine reiche Vergangenheit. Dass wir am Ende fündig geworden sind, war also das Ergebnis langer und harter Arbeit. Aber es war natürlich auch viel Glück dabei. Gerade der Donut-Laden war ein Geschenk der Filmgötter. Wobei ich gestehen muss, dass wir an der Stelle betrügen mussten, da er in einer anderen Stadt ist als der, in der wir den Film gedreht haben. In der Drehbuchfassung war Strawberrys Arbeitsplatz noch ein Food Truck vor einer Raffinerie. Als wir den Laden entdeckten, war aber klar, dass wir den unbedingt nehmen mussten, weil er wirklich alles mitbrachte, was wir brauchten: die Nähe zu den Raffinerien, die Farben, die sexuelle Konnotation. Außerdem hatte ich in Tangerine L.A. schon einen Donut-Laden. Das war einfach zu gut, um wahr zu sein.

Vielen Dank für das Gespräch!

Sean Baker

Zur Person
Sean Baker wurde am 26. Februar 1971 in Summit, New Jersey, USA geboren. Er war schon früh am Filmemachen interessiert und studierte Film an der  Tisch School of the Arts in New York City. Sein erster eigener Spielfilm war Four Letter Words (2000), das Porträt mehrerer junger Männer in den USA. In seinen Filmen beschäftigt er sich mit Außenseitern der Gesellschaft. Bei Starlet (2012) drehte sich die Geschichte um die Freundschaft zwischen einer Pornodarstellerin und einer 85-Jährigen. Tangerine L.A. (2015) handelte von einer transsexuellen Sexarbeiterin. 2017 folgte The Florida Project, in dem Willem Dafoe den Manager eines heruntergekommenen Motels spielt, das zur Heimat mehrerer Familien geworden ist.



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