Die Rote Kapelle
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Die Rote Kapelle

Inhalt / Kritik

„Die Rote Kapelle“ // Deutschland-Start: 26. August 2021 (Kino)

Bei der Frage nach dem Widerstand gegen Nazi-Deutschland fallen den meisten politisch Interessierten zwei Gruppierungen ein: Die „Weiße Rose“ um die jungen Studenten Hans und Sophie Scholl und die Offiziere des „20. Juli“ um den Grafen von Stauffenberg. Beide Geschichten wurden mehrfach prominent verfilmt und sind durchaus präsent im heutigen politischen Bewusstsein. Anders verhält es sich mit der „Roten Kapelle“, einem Netzwerk von Freundeskreisen, das ebenfalls Flugblätter verteilte, Juden und sonstige Verfolgte versteckte und länger aktiv war als die beiden anderen Gruppen. Dokumentarfilmer Carl-Ludwig Rettinger setzt den lange verkannten Heldinnen und Helden ein ebenso bewegendes wie informatives Denkmal.

Schaurige Nähe

Wenn der Historiker Dr. Hans Coppi jr. aus dem Fenster schaut, blickt er auf ein Grundstück, auf dem sich zu Nazi-Zeiten das Hauptquartier der Gestapo befand. Es ist eine Nähe, die schaudern macht: einerseits wissenschaftliches Lebensthema, andererseits grausiges persönliches Schicksal. Der heute 79-Jährige wurde in einem Nazi-Gefängnis geboren, seine Mutter kurz darauf ermordet, ebenso wie sein Vater Hans Coppi senior, ein wichtiges Mitglied der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“. Über Harro Schulze-Boysen, den Kampfgenossen seines Vaters, hat Coppi jr. promoviert. Seit 2003 ist er freier Mitarbeiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Wenn ihn Regisseur Carl-Ludwig Rettinger vor der Kamera interviewt, geht die spannende Doppelfunktion des Films unter die Haut: einerseits genau recherchierte Rekonstruktion von Zielen und Struktur des Widerstandes, andererseits emotional unterfütterte Anklage von direkten Angehörigen. Neben Coppi erzählen weitere Nachkommen von ihrer Sicht auf Mitglieder der Roten Kapelle: ein Enkel, eine Enkelin und eine Großnichte.

Sie und der Film räumen mit Mythen auf, die man sich in Ost und West vor der Wiedervereinigung erzählte. In der alten Bundesrepublik vertrat Kanzler Helmut Kohl noch 1987 die Meinung, die Rote Kapelle sei keine Widerstandsorganisation gewesen, sondern ein Spionagering im Dienste der Sowjetunion. Auch die DDR übertrieb die nachrichtendienstlichen Aktivitäten der Gruppe, wendete sie aber ins Positive. Agenten gegen den Klassenfeind, also etwa die Stasi, leisteten sinnvolle Arbeit, wie man von den Antifaschisten der Roten Kapelle lernen könne.

Eine Erfindung der Nazis

In Wirklichkeit jedoch wurde der Name der Gruppe von den Nazis erfunden, wie man heute nach dem Fall der Mauer und neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen weiß. Hitlers Schergen konstruierten eine zentralistisch geführte Organisation, die es nie gegeben hatte. Wohl aber existierten verschiedene Freundeskreise in Berlin sowie Gruppen in Brüssel und Paris, die tatsächlich von Sowjet-Agenten geführt wurden. Und dies zu einem mehr als guten Zweck. Ohne den Verrat der deutschen Angriffspläne auf Stalingrad an die Rote Armee, so eine zentrale These des Films, hätten die Sowjets den Kampf gegen Hitler womöglich verloren. Denn wichtige Nazi-Gegner der Roten Kapelle saßen an den Schaltstellen des diktatorischen Machtapparats. Harro Schulze Boysen etwa arbeitete im Hauptquartier der Luftwaffe und hatte Zugang zu streng vertraulichen Angriffsplänen. Seine Frau Libertas saß in Goebbels Propaganda-Ministerium und gab geheimes Filmmaterial über Nazi-Gräuel an der Ostfront weiter.

Dokumentarfilmer Carl-Ludwig Rettinger profitiert von zwei Film- und Fernseharbeiten aus den 1970ern, die jeweils nur die halbe Wahrheit erzählen. Der deutsch-französische Fernseh-Mehrteiler Die Rote Kapelle/L’orchestre rouge bedient das Spionage-Klischee, die DEFA- Produktion Klk ruft Ptx – Die Rote Kapelle verschweigt Stalins Blauäugigkeit gegenüber Hitler. Indem Rettinger Material aus beiden Filmen ausgiebig zitiert, bekommt er dramatische Spielszenen frei Haus geliefert – und damit einen spannenden, hoch emotionalen Kontrapunkt zu geschickt hinein montierten Archivbildern und hoch interessanten Interviews mit Historikern und Nachfahren.

Würdiges Andenken

Bewundernswert ist dabei die Klarheit, mit der Die Rote Kapelle das komplexe Geschehen verdichtet: verständlich, aber nicht vereinfachend, auf eine begrenzte Anzahl von Akteuren fokussiert, ohne die vielen Helferinnen und Helfer unter den Tisch fallen zu lassen. Im Abspann heißt es: „102 Widerstandskämpfer der Roten Kapelle wurden hingerichtet, in den Selbstmord getrieben oder in KZs ermordet“. Carl-Ludwig Rettingers Film hilft, ihnen ein würdiges Andenken zu bewahren.

Credits

OT: „Die Rote Kapelle“
Land: Deutschland, Belgien, Israel
Jahr: 2020
Regie: Carl-Ludwig Rettinger, Lorenz Findeisen
Drehbuch: Carl-Ludwig Rettinger
Musik: Eloi Ragot
Kamera: Lutz Reitemeier, Olivier Verdoot

Bilder

Trailer

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„Die Rote Kapelle“ widmet sich einer Widerstandsgruppe gegen die Nazis, die jenseits von Historikerkreisen noch viel zu wenig bekannt ist. Die Dokumentation besticht durch einen ebenso informativen wie emotionalen Zugang.
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