Shannon Murphy
© Rupert Reid

Shannon Murphy [Interview]

Jugendfilme handeln oft davon, wie jemand seinen Weg durchs Leben sucht. Doch was, wenn dieser jemand todkrank ist und dieses Leben gar nicht mehr wirklich erfahren wird? Basierend auf einem Theaterstück erzählt Milla Meets Moses (Kinostart 8. Oktober 2020) von der rebellischen, krebskranken Milla, die den drogenabhängigen Moses kennenlernt und mit zu ihren Eltern nimmt – was zu jeder Menge Chaos führt. Wir haben die australische Regisseurin Shannon Murphy, die hier ihr Spielfilmdebüt gibt, zu der Tragikomödie gefragt, über das Leben angesichts des Todes, aber auch was ihren Coming-of-Age-Film von anderen unterscheidet.

Kannst du uns ein bisschen über die Entstehungsgeschichte von Milla Meets Moses erzählen? Wie bist du zu dem Projekt gekommen?
Jan Chapman und Alex White, die den Film produziert haben, hatten mir das Drehbuch zum Lesen gegeben. Sie hatten etwa sieben Jahre zuvor das Theaterstück gesehen, auf dem Milla Meets Moses basiert, und wussten sofort, dass sie daraus zusammen mit der Autorin Rita Kalnejais ein Drehbuch machen wollten. Als ich hinzu kam, stand das Drehbuch bereits, was für mich natürlich gut war. Zu dem Zeitpunkt hatte ich schon zehn Jahre lang Stücke am Theater inszeniert und auch drei, vier Jahre als Regisseurin beim Fernsehen gearbeitet und war nun bereit für meinen ersten Spielfilm. Ich habe das Drehbuch absolut geliebt, als ich es gelesen habe, und wollte daher unbedingt dabei sein.

Das Stück kanntest du damals noch nicht?
Nein. Ich habe es auch erst einige Wochen, bevor wir mit dem Dreh angefangen haben, gelesen. Ich wusste dabei sofort, dass ich die Kapitelüberschriften des Stücks im Film übernehmen wollte. Denn dort waren die ursprünglich gar nicht geplant. Wobei ich sie zusammen mit Rita ein bisschen umgeschrieben habe. Mein Ziel war es, dass sie am Anfang ganz konkret sind und mit der Zeit immer poetischer werden, um das Innere von Milla wiederzugeben.

Durch diese Kapitel bekommt der Film einen stärkeren Episodencharakter. Vor Milla Meets Moses hast du diverse Kurzfilme und Serien gedreht. Haben diese Erfahrungen dabei geholfen, einen solchen Episodenfilm zu drehen?
Definitiv. Ein anderer Punkt, der mir geholfen hat: Als ich in Hongkong auf eine High-School ging, hatte ich einen Lehrer, der ein großer Bewunderer von Brechts Werken war und durch den ich auch die Techniken gelernt habe. Ich habe immer die Idee geliebt, die Vierte Wand zu durchbrechen. Aber es ist auch eine große Kunst. Viele denken, es reicht, Gefühle zu trennen oder intellektueller und didaktischer zu sein. Dabei kommt es auf die richtige Balance an. Du brauchst auch die kathartischen Momente.

Was waren die Herausforderungen dabei, das Stück zu verfilmen? Selbst wenn der Inhalt gleich bleibt, brauchst du schließlich eine andere optische Sprache.
Absolut, ja. Mir hat glaube ich auch geholfen, dass ich das Stück nie gesehen habe, da ich auf diese Weise nicht beeinflusst wurde. Das versuche ich grundsätzlich zu vermeiden. Meine eigene Ästhetik ist oft von leuchtenden Farben geprägt. Milla ist an einem Punkt in ihrem Leben, an dem sie sich so lebendig wie nie fühlt. Teenager haben meiner Meinung nach sowieso eine verstärkte Wahrnehmung der Welt. Und das wollte ich durch diese Farben ausdrücken. Außerdem ist mir Körpersprache sehr wichtig. Vielleicht bin ich da auch geprägt durch meine Kindheit, die ich in Asien verbracht habe. Auf jeden Fall wollte ich, dass man den Film selbst dann noch versteht, wenn man alle Worte herausnimmt. Deswegen bewegen sich die Figuren so viel. Deswegen spielt auch Musik eine so große Rolle, denn sie drückt aus, wie es in Milla aussieht und wer sie ist. Musik ist für sie eine Form der Rebellion, aber auch die Möglichkeit sich selbst zu finden.

Wie hast du die Musik ausgewählt?
Wir haben am Anfang Playlists erstellt und sie an jeden geschickt, die Schauspieler und Schauspielerinnen, und haben sie die ganze Zeit während der Vorbereitung gespielt. Uns war es wichtig, dass die Lieder immer zu der Szene passen, in denen sie gespielt werden. Wir haben zum Beispiel Come Meh Way von Sudan Archives genommen, wenn sie im Haus von Gidon tanzt. Bizness von Tune-Yards wird auf der Party gespielt, weil wir wollten, dass die Kamera, die Crew und die Schauspieler und Schauspielerinnen auf den Rhythmus des Liedes reagieren und sich im Takt dazu bewegen. Es funktioniert einfach besser, wenn die Musik wirklich am Set auch gespielt wird. Wir haben aber auch andere Lieder, die während der Postproduktion hinzugefügt wurden. Bei der Auswahl der Lieder wollte ich vor allem australische Künstler wie The Cat Empire. Außerdem sollten es Lieder sein, die nicht zu bekannt sind, weil ich erreichen wollte, dass das Publikum über den Film eine Verbindung zu der Musik aufbaut. Und das funktioniert einfach besser, wenn es diese Lieder vorher nicht kennt. Wir haben bei der Auswahl zudem versucht, eine große Bandbreite zu haben, die gleichzeitig zu der Entwicklung von Milla passt, zu den verschiedenen Perücken und Looks, die sie im Lauf der Zeit hat. Als Teenager wechselst du ständig deinen Stil und was dir gefällt. Und das wollten wir durch die Musik ausdrücken.

Solche Coming-of-Age-Filme, die von Selbstsuche handeln, müssen immer eine nicht ganz einfache Balance halten. Einerseits sollen sie so universell sein, dass sich jeder darin wiederfindet. Gleichzeitig brauchen sie aber auch etwas, das sie anders und besonders macht, damit es einen Grund gibt, diese Geschichte zu erzählen. Was macht Milla Meets Moses für dich besonders?
Mir war es wichtig, diese Altersgruppe wirklich zu respektieren. Wir neigen dazu, dieses Alter etwas zu idealisieren oder auch ein bisschen kitschiger darzustellen, als es in Wirklichkeit ist. Dann sah ich diese Theateraufführung Once and for All We’re Gonna Tell You Who We Are So Shut Up and Listen, bei der nur Teenager mitgemacht haben. Ich habe lange Schülern Schauspielunterricht gegeben und liebe diese Altersgruppe. Sie sind so lebendig und voller Überzeugungen, dabei aber auch smart. Und ich wollte unbedingt, dass ihnen mein Film gefällt. Die Sache ist nur: Du kannst keinen Film für Teenager drehen. Der Punkt in diesem Alter ist ja, dass du erwachsen sein willst, weswegen du dann auch Erwachsenenfilme anschaust, die gar nicht für dich gedacht sind. Wichtig ist es, Jugendliche mit Respekt zu behandeln, sowohl innerhalb des Films wie auch in der realen Welt. Du musst sie ernst nehmen. Wenn du beispielsweise so jung schon sterben musst, willst du dabei ernst genommen werden, wie du die verbleibende Zeit erlebst. Wir müssen ihnen zuhören und ihre Wünsche respektieren. Was mir an der Geschichte so gut gefällt, ist dass Milla diese Entscheidungen selbst trifft, was sie mit dieser Zeit anfangen soll.

Babyteeth
Milla (Eliza Scanlen) und Moses (Toby Wallace) in Milla Meets Moses

Ist es aber nicht irgendwo ein Widerspruch, einen Coming-of-Age-Film über eine todkranke Jugendliche zu machen? Normalerweise geht es in diesen Filmen darum, wie ein junger Mensch den Schritt ins Erwachsenenalter macht. Wie soll das gehen, wenn dieses Alter gar nicht erreicht werden kann?
Interessant ist in dem Zusammenhang, dass Milla die Figur ist, die sich am erwachsensten verhält. Die anderen verlieren alle die Kontrolle, weil sie mit einer Krise konfrontiert sind, die sie nicht bewältigen können. Das ist etwas, das auch im wahren Leben oft geschieht, wenn Eltern ihre Probleme auf die Kinder übertragen. Milla ist hingegen die Stimme der Vernunft, was aber nicht heißt, dass sie nicht auch ordentlich Kontra geben kann und die Grenzen austestet, wie man es als Teenager nun einmal tut. Wir haben im Vorfeld viel mit Ärzten gesprochen, aber auch einer Organisation, die sich um krebskranke Jugendliche kümmern. Vieles von dem, was wir in Milla Meets Moses zeigen, ist ganz typisch für solche Situationen. Väter fühlen sich zum Beispiel oft außen vor gelassen, weil die Mütter sich um alles kümmern wollen. Auffallend ist auch, dass die Jugendlichen oft noch rebellischer sind, weil sie diese Erfahrungen im Leben unbedingt noch machen wollen, so lange sie es können.

Aber wie kannst du mit deinem Leben weiter machen, wenn du weißt, dass es bald endet?
Du hast keine andere Wahl. Du musst jetzt alles mitnehmen, was du kriegen kannst. Das bedeutet nicht mehr lange ausschlafen, keinen Sonnenuntergang mehr verpassen, keine Party mehr auslassen. Denn du wirst nie wieder die Gelegenheit dazu haben.

Im Fall von Milla kommt es aber irgendwann zu einem Punkt, an dem sie nicht mehr kann und tatsächlich sterben möchte, noch bevor sie es muss. Stichpunkt Sterbehilfe. In vielen Ländern ist das nach wie vor illegal. Wie stehst du dazu? Sollte es erlaubt sein?
Meiner Meinung nach sollte jeder zu hundert Prozent selbst entscheiden können, wann er sterben möchte. Der eigene Tod ist eine so persönliche Sache, dass die da niemand reinreden sollte. Ich finde es richtig, wenn Menschen die Möglichkeit haben, ihr Ende bestimmen zu können und sich vielleicht auch auf diese Weise verabschieden können.

Der Tod ist nicht das einzige düstere Theme in Milla Meets Moses. Da geht es um Drogensucht, um dysfunktionale Familien oder auch psychische Probleme. Und doch ist der Film sehr lebendig und mit viel Humor. Warum hast du aus dem Stoff kein reines Drama gemacht? Das wäre für viele vermutlich naheliegender.
Zunächst ist das einfach typisch für uns Australier. Wir begegnen allem, das irgendwie schwierig ist, mit Humor. Das ist ein großer Teil unserer Kultur. Aber ich finde es auch glaubwürdiger, wenn Menschen sich in schwierigen Zeiten unangemessen oder seltsam verhalten. Und das kann komisch sein. Bei der Szene, in der sie zu Abend essen, gibt es zum Beispiel viele komische Momente, auch wenn das für die Familie selbst nicht ersichtlich ist. Für sie ist das völlig normal. Aber was heißt schon normal? Das Leben ist nun einmal chaotisch. Und trotzdem versuchen wir, es in Filmen wieder in Ordnung zu bringen. Das finde ich langweilig. Meine Lieblingsfilme sind oft die, bei denen eben nicht alles in Ordnung ist. Eine Frau unter Einfluss zum Beispiel oder Breaking The Waves. Filme, die genauso chaotisch und kaputt sein dürfen wie das Leben.

Nachdem dein erster Film jetzt draußen ist, was sind deine nächsten Projekte? Wirst du weitere Filme drehen?
Ich werde nach Großbritannien gehen für ein Projekt namens The Power, das auf einem Buch von Naomi Alderman basiert. Dabei handelt es sich um eine Serie von Reed Morano, die The Handmaid’s Tale gemacht hat. Die Geschichte zeigt eine Welt, in der Frauen durch elektrische Kräfte gewalttätiger sein können als Männer. Das hört sich ein bisschen durchgeknallt an, ist aber tatsächlich sehr naturalistisch und stellt die Frage, ob es gut wäre, das Machtverhältnis umzudrehen. Da werde ich zwei Folgen drehen. Ein weiterer Film ist momentan noch nicht geplant. Da ich selbst nur Regie führe und nicht schreibe, auch gar nicht schreiben will, brauche ich ein gutes Drehbuch. Und das suche ich im Moment noch.

Zur Person
Shannon Murphy wuchs in Hong Kong, Singapur, Afrika und Australien auf. 2007 schloss sie ihr Studium am australischen National Instituteof Dramatic Art (NIDA) ab. Später studierte sie Regie an der Australian Film Television and Radio School (AFTRS), wo sie 2013 ihren Abschluss machte. Sie inszenierte eine Reihe von Theaterstücken, drehte Kurzfilme und führte auch bei Serien Regie. Ihr Spielfilmdebüt Milla Meets Moses feierte 2019 bei den Filmfestspielen von Venedig Premiere.



(Anzeige)