Gull
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Gull

Kritik

Gull
„Gull“ // Deutschland-Start: nicht angekündigt

Seit 30 Jahren arbeitet Obok (Jeong Ae-hwa) als Verkäuferin auf einem Fischmarkt und regelt zudem noch den Haushalt für ihre Großfamilie. Auch wenn es finanziell immer eine Herausforderung war, sind sie und ihr Mann stolz darauf, dass sie es ihren Töchtern ermöglichen konnten, ein Studium zu beginnen. Ihre älteste Tochter In-ae (Go Seo-hee) steht zudem kurz vor der Heirat und beide Familien sind mitten in den Vorbereitungen für die Hochzeitsfeier, von denen sich Obok eine kurze Auszeit nehmen will, als die, wie so oft, mit den anderen Händlern vom Fischmarkt einen trinken geht. Doch dieser Abend verläuft anders als geplant, denn Obok wird von einem der Händler vergewaltigt und versucht zunächst selbst die Angelegenheit zu klären, ohne ihre Familie wissen zu lassen, wie es ihr geht. Zu Hause zieht sie sich derweil immer mehr zurück, wird gereizt und immer empfindlicher, bis sie In-ae während einer Autofahrt zur Rede stellt. Als Obok dann zur Polizei geht und Anzeige erstattet, eskaliert die Situation, denn nun sind die Händler, aus Angst Kunden und damit Geld zu verlieren, gegen ihre Kollegin, die nur unnötig Ärger macht in ihren Augen. Immer mehr erfährt Obok, dass sich eigentlich niemand für ihren Fall interessiert und auch ihre Tochter scheint die Angelegenheit lieber schnell hinter sich bringen zu wollen, damit ihre Hochzeit ohne Probleme vonstattengehen kann. Als man dann auch noch versucht, Obok die Schuld an der Vergewaltigung zu geben, beschließt sie, dass es an der Zeit ist zu handeln.

Ein System der Täter
Für ihr Spielfilmdebüt Gull war es eine Episode aus ihrem Alltag, die Kim Mi-jo zu der Geschichte inspirierte, mit der sie bei dem renommierten Filmfestival in Jeonju, Südkorea einen der Hauptpreise gewann. Auf einem Spaziergang am Nachmittag beobachtete die Filmemacherin einen jungen Mann, der mit einigem Abstand einer mittelalten Frau folgte, die sie, nach eigenen Aussagen, an ihre Mutter erinnerte. Die Episode, die die zutiefst beunruhigte, setzte den Grundstein für das Nachdenken über Geschlechterbilder und den Status von Frauen innerhalb der koreanischen Gesellschaft, ein Denkprozess, der nicht zuletzt auch durch die #MeToo-Bewegung inspiriert wurde. Gull, der auf dem diesjährigen Filmfest Hamburg zu sehen ist, erzählt von einer Kultur des Wegsehens und einer Frau, die dies nicht mehr länger hinnehmen kann und will.

Minutiös zeigt Gull eine Normalität, die keine mehr ist, die für ihre Protagonistin aufgehoben ist, zu der sie sich aber in gewisser Weise zurücksehnt. Mit großer Kraft und Engagement spielt Jeong Ae-hwa diese Frau, die direkt und indirekt mitgeteilt bekommt, die möge doch „keinen Stress“ machen und solle sich ihrem Alter angemessen verhalten. Die Störung der Normalität wird in Gull nicht übergangen, vielmehr erscheint der Übergriff wie eine Facette dieses Alltags zu sein, mit dem man zu rechnen hat in einem System, welches den Täter letztlich begünstigt und das Opfer vergisst oder noch weiter demütigt. Selbst bei der ansonsten nicht auf den Mund gefallenen Obok bleibt dieser Kreislauf aus Ignoranz, Demütigung und weiterer Verhöhnung nicht ohne Spuren, verändert die Frau, macht sie depressiv und isoliert sie schließlich.

Mit Abstand die verstörendsten Szenen sind die, welche auf die Existenz dieses Systems in der eigenen Familie hinweisen. Wo die Gebote des Konformismus gelten, muss eine Veränderung, eine Frau, noch dazu einer über 50, nur stören, wenn sie auf einen Missstand aufmerksam macht. Körperlichkeit scheint ein Tabuthema zu sein, welches das System oder die Familie als Spiegel dessen sofort ahndet und verurteilt.

Die Anklage der Anderen
Kim Mi-jos Drehbuch sowie ihre Darsteller zwingen uns die Perspektive Oboks auf. Mit einem fast schon dokumentarischen Realismus, der an die Vorgehensweise der Werke Jean-Pierre und Luc Dardenne (Zwei Tage, eine Nacht) erinnert, verfolgt die Kamera den Weg dieser Frau, die jemanden sucht, der ihr zuhört und der sie schließlich nicht mit Blicken verurteilt. Aus dieser Sicht entlarvt die Regisseurin ein System, welches nicht nur von repressiven Geschlechterbildern definiert ist, sondern zudem sozialen Zusammenhalt dann, wenn er am meisten gebraucht wird, zersetzt. Entwürdigend wirkt jener Spießrutenlauf, wenn es Obok darum geht, Zeugen für ihre Version der Geschichte zu finden, die sich alle hinter wirtschaftlichen Nöten verstecken oder gleich ganz in Schweigen hüllen. Jedoch verurteilt die Kamera sie nicht, sind sie doch auch nur Zahnräder in einem System, die gelernt haben, wie schnell sich die Blicke der Anderen auch gegen sie richten können.

Credits

OT: „Gal-mae-gi“
Land: Südkorea
Jahr: 2020
Regie: Mi-jo Kim
Drehbuch: Mi-jo Kim
Musik: Mi-jo Kim
Kamera: Seong-seop So
Besetzung: Ae-hwa Jeong, Byung-choon Kim, Jang-you Lee, Seo-heui Ko, Ga-bin Kim, Seo-hee Geo

Trailer



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„Gull“ ist ein beeindruckend gespieltes Drama über Geschlechterbilder und ein System der Täter. Kim Mi-jo erzählt von dem Kampf einer Frau, wahrgenommen zu werden, menschlich behandelt zu werden und nicht einfach nur nach Kategorien wie „Täter“ und „Opfer“ bewertet zu werden.
8
von 10