Wajib
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Wajib
„Wajib“ // Deutschland-Start: 19. September 2019 (Kino)

Es ist schon eine Weile her, dass Shadi (Saleh Bakri) das letzte Mal in seiner Heimat Palästina gewesen ist. Und eigentlich zieht es ihn auch nicht besonders dorthin, ist er mit seinem neuen Leben in Italien doch sehr glücklich. Aber eine wirkliche Wahl hat er nicht, wo doch seine Schwester Amal (Maria Zreik) heiratet. Da kann er schlecht fehlen. Aber so schön es auch ist, die Familie wiederzusehen, so schnell kommt es zu ersten Konflikten, vor allem mit seinem Vater (Mohammad Bakri). Als die beiden durch Nazareth fahren, um persönlich die Einladungskarten für die Hochzeit zu verteilen, kommen die unterschiedlichen Weltansichten und alte Wunden wieder an die Oberfläche …

Wenn Filmemacher und Filmemacherinnen in ihren Werken Familienmitglieder wieder zusammenbringen wollen, um so alte Geschichten aufzuarbeiten, dann greifen sie meistens auf eines von zwei Szenarien zurück: Entweder stirbt jemand oder es steht eine Hochzeit an. Annemarie Jacir hat sich für Letzteres entschieden. Nicht weil sie grundsätzlich ein Problem damit hätte, den Tod zu thematisieren. Der kommt in Wajib auch so oft genug vor. Indem sie jedoch die zwischenmenschlichen Beziehungen in den Vordergrund stellt, kann sie stärker auf Themenbereiche wie Selbstverwirklichung eingehen. Denn das ist einer der wiederkehrenden Streitpunkte zwischen Vater und Sohn.

Frauen, versteckt euch!
Um die beiden dreht sich hier dann auch mehr oder weniger alles. Schwester Amal beispielsweise taucht erst überraschend spät in dem Film auf, ist zwar Anlass für die Geschichte, hat darin selbst jedoch kaum Mitspracherecht. Eine derart kuriose Vernachlässigung ist oft auf das übliche Machtgefälle der Geschlechter zurückzuführen und an einem generellen filmischen Desinteresse an Frauenfiguren. Regisseurin und Drehbuchautorin Jacir wird man diesen Vorwurf jedoch kaum machen können. Vielmehr nutzt die palästinensische Filmemacherin diese Leerstelle als eine Art Meta-Kommentar, wenn sie Amal sogar sagen lässt, dass es hier nicht um sie geht. Auch andere Frauen tauchen immer wieder nur in der dritten Person auf, mal als begehrenswerte Junggesellin, mal als Rabenmutter, die alle im Stich gelassen hat, sind Inhalt von Gesprächen, ohne je in Erscheinung zu treten.

Aber das ist nur eines der diversen interessanten Themen, die in Wajib angeschnitten werden. Einerseits ähnelt der Film den besagten Dramen, in denen Familienmitglieder ihre Vergangenheit aufbereiten und ihre Konflikte lösen müssen. Gleichzeitig hat Jacir aber auch eine Art Roadmovie gedreht, der dazu dient, das Land kennenzulernen. Zwar verlassen die beiden Männer Nazareth kein einziges Mal, doch selbst das begrenzte Setting erlaubt es, sehr viel über die Landsleute und ihren Alltag zu sagen. Das erinnert ein wenig an die letzten Filme von Jafar Panahi (Taxi Teheran, Drei Gesichter), in denen ebenfalls Autofahrten dazu dienten, die Situation einer Gesellschaft aufzudröseln. Nur dass das hier mit den persönlichen Geschichten verbunden wird, das Individuelle also auf das Universelle trifft.

Viele Themen, wenig Einheit
Das klingt nach einem ziemlichen Durcheinander an Themen, ist es am Ende auch. Mal ist von der israelischen Besatzung die Rede, danach geht es um die Traumfrau, um eigene verpatzte Träume oder auch die Frage, warum da eigentlich so viel Müll in den Straßen liegt. Einen roten Faden wird man darin vergeblich suchen. Es gibt noch nicht einmal eine eindeutige Entwicklung. Wie auch, wenn viele Szenen sehr abrupt enden und nie eine Auflösung erfahren? Selbst schockierende Momente werden gnadenlos abgebrochen, so als ob sie nie stattgefunden hätten. Es ist nicht einmal so, dass die einzelnen Episoden aufeinander abgestimmt wären: Mal ist die Geschichte traurig, mal lustig, mal dokumentarisch angehaucht, dann wieder übertrieben. Ein Potpourri der unterschiedlichsten Einfälle, die lediglich das Vater-Sohn-Gespann gemeinsam haben.

Doch dieses Gespann allein wäre es schon wert, dem Festivalhit – unter anderem war er beim Filmfest Hamburg 2017 zu sehen – eine Chance zu geben. Mohammad und Saleh Bakri, die auch im wahren Leben Vater und Sohn sind, geben eine mitreißende Performance als Familie ab, die sich durchaus liebt, aber nicht wirklich miteinander klarkommt. Die Szenen, in denen Ärger und Fürsorge kaum voneinander zu trennen sind, gehören zu den Höhepunkten des Films. Wajib hat aber auch darüber hinaus eine Menge zu erzählen, von der schwierigen Loslösung von Erwartungen und Traditionen über kuriose Begegnungen bis zu wehmütigen Auseinandersetzungen, die auch am sprachlichen Unvermögen scheitern. Gestritten wird viel, kommuniziert manchmal weniger. Jacir gelingt damit der Spagat zwischen einem Film, in dem sich jeder wiederfinden kann und der doch auch ungewöhnlich genug ist, um nicht in der Beliebigkeit verlorenzugehen.



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In „Wajib“ wird eine Hochzeit zum Anlass einer Wiederannäherung von Vater und Sohn, die sich auch durch die räumliche Distanz entfremdet haben. Der sehr episodenhaft angelegte Film kombiniert dabei Drama, Komödie und Roadmovie, ist einerseits ein sehr universelles Werk über die üblichen Familienprobleme, gleichzeitig aber auch Einblick in die Situation von Palästinensern in Nazareth.
7
von 10