Capernaum
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Capernaum – Stadt der Hoffnung

Capernaum
„Capernaum – Stadt der Hoffnung“ // Deutschland-Start: 17. Januar 2018 (Kino) // 24. Mai 2019 (DVD/Blu-ray)

Zain (Zain Al Rafeea) mag erst zwölf Jahre alt sein. Doch in dieser Zeit hat der libanesische Junge schon jede Menge erlebt. So musste er mitansehen, wie seine jüngere Schwester verkauft wurde – von den eigenen Eltern! Aber auch er selbst hat viel Unheil angerichtet, derzeit sitzt er im Jugendgefängnis, weil er jemanden niedergestochen haben soll. Dabei hätte das alles verhindert werden können, hätten ihn seine Eltern nicht geboren. Und eben das macht er ihnen zum Vorwurf, schleppt sie sogar vor Gericht, um sie zu verklagen. Denn jemand wie sie hätte niemals Kinder bekommen dürfen …

Die meisten von uns dürften schon einmal in der Situation gewesen, in der wir uns fragen, warum wir überhaupt geboren wurden. Und auch der Gedanke, dass manche Eltern keine Kinder bekommen sollten, ist nicht unbedingt fremd: Genügend Beispielen läuft man im Alltag ja über den Weg. Aus beidem aber einen Film zu machen, das ist schon ein starkes Stück. Nadine Labaki hat dies getan, als Regisseurin und Co-Autorin, jahrelang an dem Drama über den jungen Zain gearbeitet, der seine Eltern verklagt.

Konkret statt abstrakt
Die Gerichtsverhandlung ist dabei jedoch eine reine Rahmenhandlung. Wer sich darauf gefreut hat, einige Grundsatzdebatten um Verantwortung und das Kinderkriegen sehen zu dürfen, der wird enttäuscht. Man hätte den kompletten Aspekt der Klage sogar rauslassen können, ohne dass es wirklich etwas geändert hätte. Denn im Mittelpunkt steht nicht die Auseinandersetzung zwischen dem Jungen und seinen Eltern. Vielmehr führt Capernaum vor Augen, was Zain überhaupt dazu veranlasst hat, derart wütend auf seine Eltern und die ganze Welt zu sein.

Der deutsche Untertitel Stadt der Hoffnung ist dabei bewusst irreführend. Denn Hoffnung gibt es in dem Film keine, weder für Zain noch seine Familie, noch die zahllosen anderen Kinder und Verlierer im Libanon. Der Haupttitel Capernaum bezieht sich dabei auf ein biblisches Dorf im Norden Israels, das heute im Französischen als Synonym für Chaos gebraucht wird. Und chaotisch sind die Zustände in Beirut ja, in dem das Drama spielt. Labaki zeigt eine Gesellschaft, in der zu viele an den Rand gedrängt und dort vergessen wurden. Die oftmals auch gar nicht existieren, weil nicht einmal das Geld für eine offizielle Dokumentation reicht: Zain gibt es eigentlich gar nicht, weil er keine Papiere hat, weil seine Eltern ihn damals nicht anmelden konnten.

Ein Kampf für die Kinder
Das bedeutet natürlich ein behördlicher Albtraum. Wie schwierig es ist, mit Menschen umzugehen, die keine Ausweise, keine Geburtsurkunden, keine offiziellen Daseinsnachweise, das hat uns die Flüchtlingskrise vor Augen geführt. In Capernaum, das auf den Filmfestspielen von Cannes 2018 Premiere feierte und dort den Preis der Jury erhält, ist dieser Ausnahmezustand jedoch Alltag. Zain ist kein Einzelfall, steht stellvertretend für die vielen anderen im Stich gelassenen Kinder. Das Drama ist nicht einmal ein rein libanesisches Gesellschaftsporträt. Stattdessen ist zu spüren, wie die zweifache Mutter Labaki allgemein für Kinderrechte kämpft, die Gemeinschaft für die Probleme der Schwächsten sensibilisieren will.

Das ist naturgemäß harte Kost, zumal Capernaum sehr eng an den Figuren bleibt. Labaki arbeitete hier ausschließlich mit Laiendarstellern, die selbst aus prekären Verhältnissen kommen. Das machte den Dreh nicht ganz einfach, auch die Finanzierung stellte ein größeres Problem dar – wer will schon zwei Stunden lang Straßenkinder sehen? Doch die Mühen haben sich bezahlt gemacht, das dokumentarisch wirkende Sozialdrama geht schnell an die Nieren, ohne dabei billig die Gefühle des Publikums manipulieren zu wollen. Wie hier von einem Tag auf den nächsten gelebt wird, Zain zu ebenso verzweifelten wie kuriosen Mitteln greift, um sich über Wasser zu halten, das ist schon ein schmerzhaftes und eindringliches Plädoyer. Eine wirkliche Konsequenz ergibt sich daraus nicht, da auch die Gerichtsverhandlung seltsam folgenlos bleibt. Doch auch so beeindruckt der Film, brennt sich ins Gedächtnis und weckt zumindest für eine Weile den Willen, doch wieder genauer hinzuschauen, was da passiert.



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Die Rahmenhandlung um einen Jungen, der seine Eltern dafür verklagt, ihn geboren zu haben, ist kurios. Doch dahinter verbirgt sich ein hartes Sozialdrama über Straßenkinder bzw. allgemein Menschen am Rand der Gesellschaft, das auch deshalb an die Nieren geht, weil es sehr dokumentarisch aufgezogen ist.
8
von 10