Kaili Blues

Kaili Blues

(„Lu bian ye can“ directed by Gan Bi, 2015)

Kaili Blues
„Kaili Blues“ läuft im Rahmen des 5. Chinesischen Filmfests in München (12. bis 17. Juni 2017)

Geschichten haben einen Anfang, einen Mittelteil und ein Ende. So dachte man eigentlich. Dann und wann begegnet man jedoch einer, die das traditionelle Konzept infrage stellt. Von der man nicht einmal sagen kann, ob sie überhaupt eine Geschichte ist. Siehe Kaili Blues. Der Film endet, bevor wir wissen, worum es hier eigentlich ging. Er beginnt, nachdem vieles schon vorüber ist, zum Teil unwiderruflich verloren. Und mittendrin ist man nicht einmal sicher, ob der Film noch läuft oder ob er durch den Traum eines Films ersetzt wurde. Ohne das zu merken, natürlich.

Im Zentrum dieses Traums steht Chen Sheng (Yongzhong Chen), der in einem kleinen Krankenhaus als Arzt arbeitet. Und auch, dass er einen Neffen namens Wei Wei hat, der bei seinem nichtsnutzigen Bruder lebt, erschließt sich recht bald. Darüber hinaus gibt Regisseur und Drehbuchautor Gan Bi, der hier sein Spielfilmdebüt abliefert, dem Publikum aber nur relativ wenig Greifbares an die Hand. Keine Handlung im eigentlichen Sinn, wenig Kontext. Nicht einmal einen richtigen Protagonisten: Über Sheng erfahren wir so gut wie nichts.

Das Ende aller Grenzen
Und doch: Kaili Blues suggeriert geschickt, dass sehr wohl eine ganze Menge passiert, manches direkt vor unseren Augen, manches im Augenwinkel. Oder wird es erst noch passieren? Das ist schwer zu sagen, da die Türen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hier schon vor langer Zeit verschwunden sind. Das kann für all die Zuschauer frustrierend sein, die von einem Film etwas Konkretes erwarten, eine Auflösung zum Beispiel. Denn das verweigert uns Bi. Anders als etwa der ähnlich enigmatische chinesische Kollege The Wasted Times sind Erzählweise und Inhalt aber miteinander verflochten. Hier hat man nicht das Gefühl, dass eine konventionelle Geschichte einfach nur vor den Augen des Publikums versteckt werden sollte. Hier ist das Verstecken und Entdecken die Geschichte.

Vielmehr bietet sich ein Vergleich mit dem thailändischen Cemetery of Splendour an. Dort war es ein auf einem ehemaligen Friedhof befindliches provisorisches Krankenhaus, welches Vergangenheit und Gegenwart, Alltag und Traum ineinander übergehen lässt. So wie dort ist auch Kaili Blues von einer mysteriösen, sehr ruhigen Atmosphäre geprägt, ein meditativer Ausflug nach Fernost. Darauf muss man sich natürlich einlassen können. In dem Film heißt es gleichzeitig, abzuschalten und dranzubleiben. Genau auf Details achten, von denen es hier eine ganze Menge gibt. Und sich doch auch fallen zu lassen, mitzutreiben in einem Fluss aus Bildern, der uns durch das ganze Land mitzunehmen scheint.

Eine wunderbare Reise durch das ländliche China
Oder zumindest einen Teil des Landes. Wenn Sheng sich auf den Weg macht, um seinen Neffen zu holen, dann bedeutet das für Kaili Blues auch, zu einem Road Movie zu werden. Allerdings keiner, der durch das lärmende China führt, welches auf seinen Platz am großen Tisch der Geschichte pocht. Sondern das leise, einfache, einsame China. Immer wieder fahren wir an schäbigen Gebäuden vorbei, bei denen nicht ganz klar ist, ob sie bereits verfallen oder einfach nie fertig wurden. Oder wir steigen auf ein Boot, welches zu einem abgelegenen Hotel führt.

Die vielen Naturaufnahmen, mit denen Bi hier das Auge verwöhnt, sie wären der Stolz einer jeden Reisedokumentation. Nur dass dies hier melancholischer ist, ein wenig düster und nachdenklich: Mit dem Filmemacher und seinen Laiendarstellern unterwegs zu sein, das bedeutet eben auch, sich selbst zu begegnen, über die Vergangenheit zu grübeln, die an jeder Ecke, an jedem Baum bereits wartet. Ein Film für die Massen ist das nicht, was die fehlende Deutschlandveröffentlichung nicht unbedingt verwunderlich macht. Experimentierfreudige Besucher des 5. Chinesischen Filmfest in München, die einen Gegenpol zu dem Trubel des Hier und Jetzt suchen, sollten sich aber überlegen, ob sie nicht ein Ticket für diese Reise buchen. Es wird zwar nur wenig Konkretes davon zurückbleiben, dafür jedoch das Gefühl, Teil von etwas Großem gewesen zu sein. Zumindest für knapp zwei Stunden.



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„Kaili Blues“ nimmt uns mit auf eine knapp zwei Stunden lange Reise durch das ländliche China, wo Vergangenheit und Gegenwart, Alltag und Traum eins geworden zu sein scheinen. Eine richtige Handlung hat das nicht, dafür aber eine meditativ-melancholische Atmosphäre und großartige Bilder.
7
von 10